Tricontium (German Edition)
hinreichte, die Kälte aus den Steinen zu vertreiben. »Es überrascht mich, dass Ihr nichts davon wisst«, sagte der Hauptmann schließlich und führte den schlichten Tonbecher abermals zum Mund. »Herr Geta hat mir Aquila nicht geschickt, nicht aus eigenem Antrieb. Er hat nur als Richter von Maglinium sein Siegel unter ein Urteil gesetzt, das so nie gesprochen worden ist.«
»Wer hat Aquilas Aufenthalt hier dann zu verantworten?«
»Der Befehl kam aus Padiacum. Dort hatte man ihn seit dem Krieg festgehalten.«
Nun war es an Herrad, lange zu schweigen, während Ihr Stück für Stück aufging, was alles geschehen sein musste. »Lasst mich raten«, begann sie am Ende. »Man nahm ihn bei Bocernae gefangen und ließ seine Leute glauben, er sei tot, um den letzten Widerstand in den Grenzlanden leichter brechen zu können. Nun wartete man ein paar Jahre, gerade lange genug, um die Herren und Fürsten, die seinerzeit zu Faroald gehalten hatten, ihre Kräfte sammeln und ersten Übermut entwickeln zu lassen. Dann ist die Zeit reif, man will prüfen, wem man trauen kann und wo neue Unruhe zu erwarten ist, und so lässt man Geta ein Urteil gegen einen gewissen Aquila ausstellen, den man dann nach Mons Arbuini schafft. Jetzt muss man nur noch ausstreuen, dass Otachar den Krieg überlebt hat, und es aussehen lassen, als sei er erst spät durch die Rache eines alten Feindes in eine unwürdige Gefangenschaft geraten, die er hinnimmt, um sein nacktes Leben zu retten … Und dann wartet man geduldig auf die, die auf diese Nachricht hin Anstrengungen unternehmen werden, ihn zu befreien. Ein Köder in einer Falle, weiter nichts. Ist es so?«
»Wenn Ihr so wollt.« Gero stellte den halb geleerten Becher auf sein Schreibpult und schien nicht zu bemerken, dass der Brief, bei dessen Abfassung ihn Herrads Erscheinen unterbrochen hatte, einen Fleck abbekam. »Ich habe die Maßnahme nicht für gut gehalten, aber wer fragt mich schon? Gundulf hat Angst und will wissen, wo seine Feinde sitzen, nicht erst, seit seine Kinder alt genug sind, ihm Ärger machen zu können.«
»Meint Ihr, dass der Anschlag neulich aus seinem eigenen Haushalt kam?«
»Was weiß ich?« Geros Hand glättete eine Falte in seinem Mantel und kam auf der unauffällig gemusterten säumenden Borte zu ruhen. »Unwahrscheinlich ist es nicht, aber es ist ja fast gleichgültig. Er braucht jedenfalls nicht die gekränkten und gedemütigten Verlierer des letzten Krieges, um früher oder später gewaltsam umzukommen.«
Herrad verbiss sich die Bemerkung, dass kein König dazu mehr als einige Unzufriedene in seiner nächsten Umgebung benötige. »Nein. Aber er braucht sie, um die Grenzen zu halten. Weiß er, was allein die Entfernung Otachars bewirkt hat, da kein Ersatz bereitgestellt worden ist? Es gibt keine Tricontinische Mark mehr! Ein Bollwerk weniger gegen all das, was nur darauf wartet, von jenseits der Grenze über uns hereinzubrechen. Noch ein Krieg gegen tatsächliche oder vorgebliche Aufständische hier oben, noch so ein Aderlass für das Gefolge der hiesigen Fürsten oder gar in ihren eigenen Reihen, und Aquae Calicis ist eine Grenzstadt, die schlecht auf Dauer zu halten sein wird!«
Noch vor kurzem hatte sie zwar Magister Paulinus gegenüber verkündet, sie gedenke nicht, sich mit Leuten wie Asgrim und Ebbo zu verbünden, doch nach der ernüchternden Erkenntnis, dass die aula regia ein zweites und endgültigeres Bocernae geradezu herausforderte, statt die weit dringendere Sicherung der äußeren Grenzen in Angriff zu nehmen, war sie schon fast bereit, den Versuch der beiden, Tricontium halbwegs zu schützen, für eine unterstützenswerte Tat zu halten.
Die Linien der Erschöpfung in Geros Gesicht schienen sich während des Ausbruchs der Richterin noch vertieft zu haben. »Wir sollten von anderen Dingen sprechen, Frau Herrad. Reden, die man aufrührerisch nennen könnte, sind in diesen Tagen gefährlich, so wahr sie auch sein mögen. Aquilas Flucht ist schlimm genug für uns, für Euch, weil Ihr unmittelbar vor seinem Verschwinden so auffällig habt nachforschen lassen, für mich, weil er aus meinem Gewahrsam entkommen ist. Wir werden beide nicht viel zu lachen haben. Vielleicht sollten wir auch fliehen.«
Wenn es ein Scherz war, dann ein sehr schwacher. »So leicht verlasst Ihr Euren Posten nicht.«
»Ihr Euren auch nicht.« Diese Gemeinsamkeit war ihm ein Lächeln wert.
Herrad stellte ihren Becher in Ermangelung eines Tisches auf die Steinfliesen des Bodens
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