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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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geworden, bleibt sie wie angewurzelt stehen, ohne ein Wort herauszubringen, und guckt nur. Die Verkäufer schweigen ebenfalls und sehen den Geschäftsleiter an. Der Geschäftsleiter lugt hinter der Ladentheke hervor und wartet, was weiter passiert.
    Die Hausfrau im weiten Seidenmantel wendet sich den Verkäufern zu und sagt:
    »Wen haben Sie denn da an der Kasse sitzen?«
    Die Verkäufer sagen nichts, weil sie nicht wissen, was sie antworten sollen.
    Der Geschäftsleiter sagt auch nichts.
    Von allen Seiten kommen Leute angelaufen. Draußen steht schon eine Menschenmenge. Hausmeister tauchen auf. Pfiffe ertönen. Mit einem Wort, ein waschechter Skandal.
    Die Menschenmenge hätte wohl noch bis zum Abend vor der Kooperative ausgeharrt, aber jemand sagte, dass in der Osjorny-Gasse alte Frauen aus dem Fenster stürzten. Da lichtete sich die Menschenmenge vor der Kooperative, denn viele gingen rüber in die Osjorny-Gasse.
     
    Charms
     
    31. August 1936

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Vater und Tochter
    Natascha hatte zwei Pralinen. Sie aß eine Praline auf, und es blieb eine Praline übrig. Natascha legte die Praline vor sich auf den Tisch und begann zu weinen. Auf einmal sah sie, dass vor ihr auf dem Tisch wieder zwei Pralinen lagen. Natascha aß eine Praline auf und begann wieder zu weinen. Natascha weinte, schielte aber mit einem Auge auf den Tisch, ob da nicht eine zweite Praline auftauchte. Doch die zweite Praline tauchte nicht auf. Natascha hörte auf zu weinen und begann zu singen. Sie sang und sang, und auf einmal starb sie. Nataschas Vater kam, nahm Natascha und trug sie zum Hausverwalter. »Da«, sagte Nataschas Vater, »bescheinigen Sie mir den Tod.« Der Hausverwalter hauchte einen Stempel an und drückte ihn auf Nataschas Stirn. »Danke«, sagte Nataschas Vater und trug Natascha auf den Friedhof. Dort war der Friedhofswärter Matwej, der saß immer am Tor und ließ niemanden auf den Friedhof, so dass man die Toten direkt auf der Straße begraben musste. Der Vater beerdigte Natascha auf der Straße, nahm die Mütze ab, legte sie auf die Stelle, wo er Natascha vergraben hatte, und ging nach Hause. Als er nach Hause kam, saß Natascha schon da. Wie das? Ganz einfach: Sie war aus der Erde geklettert und nach Hause gerannt. Das war vielleicht ein Ding! Der Vater war so verwirrt, dass er umfiel und starb. Natascha rief den Hausverwalter und sagte: »Bescheinigen Sie mir den Tod.« Der Hausverwalter hauchte den Stempel an und drückte ihn auf einen Fetzen Papier, dann schrieb er auf denselben Fetzen Papier: »Hiermit wird bestätigt, dass der und der gestorben ist.« Natascha nahm den Zettel und trug ihn auf den Friedhof, um ihn zu begraben. Aber der Friedhofswärter Matwej sagte zu Natascha: »Nie und nimmer lasse ich dich hier rein.« Natascha sagte: »Ich möchte doch nur dieses Zettelchen begraben.« Aber der Wärter sagt: »Brauchst gar nicht zu betteln.« Da vergrub Natascha das Zettelchen auf der Straße, legte auf die Stelle, wosie das Zettelchen vergraben hatte, ihre Söckchen und ging nach Hause. Als sie nach Hause kam, saß der Vater schon da und spielte an einem kleinen Billardtischchen mit Metallkügelchen gegen sich selbst.
    Natascha wunderte sich, sagte aber nichts und ging auf ihr Zimmer, um zu wachsen.
    Sie wuchs und wuchs, und vier Jahre später war sie ein erwachsenes Fräulein. Nataschas Vater war alt und krumm geworden. Aber immer wenn sich die beiden daran erinnern, wie sie sich gegenseitig für tot gehalten haben, wälzen sie sich vor Lachen auf dem Sofa. Manchmal lachen sie an die zwanzig Minuten am Stück.
    Kaum hören die Nachbarn das Gelächter, ziehen sie sich an und gehen ins Lichtspielhaus. Einmal sind sie auch weggegangen und nicht mehr zurückgekehrt. Sind wohl unters Auto gekommen.
     
    Charms
     
    1. September 1936

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Neue Bergsteiger
    Bibikow kletterte auf einen Berg, überlegte und stürzte vom Berg. Tschetschenen hoben Bibikow auf und setzten ihn wieder auf den Berg. Bibikow bedankte sich bei den Tschetschenen und fiel wieder den Abhang hinunter. Und weg war er. Nun kletterte Augenapfel auf den Berg, sah durch ein Fernglas und erblickte einen Reiter.
    »He!«, rief Augenapfel, »gibt’s hier in der Gegend einen Duchan?«
    Der Reiter verschwand hinterm Berg, dann zeigte er sich neben einem Gebüsch, dann verschwand er hinter dem Gebüsch, dann zeigte er sich im Tal, dann verschwand er hinterm Berg, dann zeigte er sich am Hang des Bergs und kam auf Augenapfel zu.
    »Gibt’s hier in der Gegend

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