Trips & Träume
Tonführung und Taktzahl völlig überein mit »Still Got the Blues«, dem Hit von Gary Moore. Dies behauptete zumindest das auf der Website veröffentlichte Gutachten von Professor Thomas Rohde. Ich druckte mir das Gutachten aus.
Moore hatte das Stück 1990 bei der Gema angemeldet, also sechzehn Jahre nach der Einspielung von »Nordrach«. Die Frage war nun, wo sollte Moore Gelegenheit gehabt haben, den Song überhaupt zu hören? Die Aufnahmen von Jud’s Gallery waren damals nur fürs Radio bestimmt gewesen. In den siebziger Jahren tourte Moore viel durch Deutschland. Erst mit der Band Thin Lizzy, später mit Colosseum II. Theoretisch könnte er den Song im Radio des Tourbusses gehört und sich die Noten aufgeschrieben haben. Für einen versierten Musiker wie Moore war das kein Problem.
Dies zu beweisen war allerdings geradezu unmöglich und fiel in den Bereich der Spekulation. Winter war so schlau, sich nur an die musikalischen Tatsachen zu halten. Auf seiner Website hatte er alles akribisch in einer Zeittafel aufgelistet. Auch Tondokumente gab es. Ein Radiosender hatte beide Songs übereinander gelegt. Ich kopierte mir diese Version in iTunes.
Die Überraschung war groß. Die Gitarrenmelodien waren absolut identisch. Winter hatte Klage eingereicht. Das Verfahren lief noch. Warum hatte er noch nicht recht bekommen? Gary Moore und seine Plattenfirma hatten ebenfalls ein Gutachten vorlegt.
Für einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich mit Winter, vielleicht auch mit seinem Gutachter Kontakt aufnehmen sollte. Ich verwarf den Gedanken. William hatte ja versprochen, sich um einen eigenen Gutachter zu kümmern.
Ich hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox. Dann legte ich Andis Notenblätter in den Tisch-Scanner und speicherte das Dokument auf dem Mac. Schließlich legte ich los.
Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als ich mit dem Artikel fertig war, waren drei Stunden vergangen.
»Ich hoffe du weißt, was du da tust«, sagte William. Ich hatte es erneut versucht, und er war sofort dran. Ich nahm den Ausdruck und las ihm den Artikel vor. Ich war so nervös, dass ich mehrmals ins Stocken geriet.
»Ich muss es einfach tun«, antwortete ich.
Wieder plagten mich Zweifel. Noch konnte ich alles abblasen.
Williams Stimme war ruhig und gefasst. »Für mich musst du das nicht machen. Es ist und bleibt deine Entscheidung.«
»Was ist mit dem Musikwissenschaftler, der mir ein Gutachten erstellt, kannst du mir da helfen?«
»Davon gibt es in Frankfurt doch bestimmt genug.«
»Ich dachte, du wolltest dich umhören? Außerdem bist du als Musiker näher dran. Und es muss schnell gehen ...«
»Meinen Professor an der Hochschule, den könntest du fragen, bestell ihm einen Gruß von mir. Ich weiß aber nicht, ob er so was überhaupt noch macht. Hast du was zu schreiben?«
Ich telefonierte gleich weiter. Professor Herbert Strenger von der Hamburger Hochschule für Musik und darstellende Kunst. Ich hatte nie von ihm gehört. Kurz und knapp trug ich ihm meine Geschichte vor.
»Sie sind ein Freund von William?«
Er war vorsichtig, aber nicht abweisend. Er fragte mehrmals nach. Ich schätzte ihn ungefähr auf meinen Jahrgang.
»Schicken Sie mir mal das Material. Ich bin, was Computer anbelangt, gut ausgestattet. Alles per Mail, kein Problem«, sagte er.
»Wie lange werden Sie brauchen, ich meine, für eine erste Beurteilung?«
»So lange es halt dauert. Dass Journalisten es immer so eilig haben.« Er gab mir seine Mailadresse und verabschiedete sich.
An einem Montagnachmittag, ich wollte gerade mit Maja die Wohnung verlassen, um mit ihr in den Zoo zu gehen, ins Exotarium, Krokodile und Schlangen bestaunen, kam sein Rückruf.
»Der Fall ist eindeutig. Die Übereinstimmung ist frappierend. Es grenzt schon an ungeheure Dreistigkeit, so genau ist alles übernommen worden. Sowohl in der Melodieführung als auch im Aufbau des Liedes. Übrigens, das Lied, das kenne ich doch, das läuft doch ständig im Radio?«
»Richtig. Und Sie meinen ...?«
»Der Song, den Sie mir als MP3-File geschickt haben, entspricht genau dem Lied, dessen Noten ich einsehen durfte. Sie sind identisch.«
»Können Sie mir das schriftlich geben? Ihre Mühe wird selbstverständlich auch entsprechend entlohnt«, antwortete ich. Wir vereinbarten ein Honorar, wie ich es bezahlen sollte, wusste ich noch nicht. Er versprach, sein Gutachten zu faxen und zu mailen.
Als Maja und ich vom Zoo zurückkamen, lagen fünf Seiten im Gerät. Der Besuch
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