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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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eigene Erinnerung angefertigt. Vielleicht glaubte er, seine memoria sei weniger vergänglich, wenn er sie in Worten festhält, aber auch darüber machte er sich wohl keine allzu großen Illusionen, wenn er hier in diesem Nebensatz notiert: … weil ich sein Lachen nicht mehr hörte, spürte ich meine Angst. Verstehst du das?«
    Dorran schüttelte den Kopf.
    »Hast du nie Angst gehabt?«
    »Doch, vor Feuer.«
    »Und Angst um dein Leben?«
    Dorran zögerte mit der Antwort und dachte nach. »Um mein Leben nicht«, sagte er schließlich, »höchstens um das von anderen, meines Vaters, meiner Königin, um das Leben ihrer Tochter Isôt, als sie einmal am Steilhang spielte und sie strauchelte …« Dorran sah das Bild vor sich. Isôt war in ihrem vierten Jahr. Sie spielte mit dem Sohn ihres Onkels, und sie warfen sich Stöcke zu, die man abschlagen musste. Einer der Stöcke geriet auf einer ungeraden Bahn an ihr vorbei, sie versuchte trotzdem, ihn zu treffen, strauchelte, und nur ein Schritt mehr, und sie wäre die Klippe hinuntergestürzt. Da hatte Dorran Angst bekommen, die Königin sah in dem Vorfall ein Zeichen der Götter, dass sie auf ihre Tochter aufpassen musste.
    »Dann weißt du wenigstens ein bisschen von dem, wovon ich rede. Die Texte, die ich schreibe und kopiere, sind frei von Angst. In den Briefen der Apostel gibt es keine Angst, auch in den Gesetzen deiner Königin nicht, nirgendwo kommt dort das Wort Angst vor. Hier jedoch steht es: angor. Sag ihr also: Ich lese diese narratio und komme dann zu ihr und wiederhole vor ihr das Geschriebene in ihrer Sprache. Gib mir zwei Tage, damit ich diese Urkunde fertigstellen und den Schülern übergeben kann, damit sie die Kapitale mit Weinlaub schmücken.«
    So abrupt, wie er sich Dorran zugewandt hatte, drehte Pater Benedictus sich nun wieder um zu seinem Pergament, tauchte den Schreibstift in das gläserne Fässchen und fuhr fort mit der Abschrift des decretum Vi ex Var. Reginae.
     
    Die Sonne ~ 106 ~ Honigwaben
     
    Isöt wurde, wie jeden Morgen kurz vor Sonnenaufgang, von Eila, der Kindsmagd, geweckt. In eine Decke gehüllt trat sie nach draußen vor das Tor des königlichen Palasts, kniete nieder und betete zur Sonne, die alles Glück versprach, auch wenn sie sich wieder einmal, wie an diesem Tag, hinter Wolken versteckte. Die Sonne gebe alles und würde einst alles nehmen, betete Eila laut. Isôt hörte nicht zu, war noch schlaftrunken und freute sich auf den angewärmten Brei aus gemahlenen Körnern, den ihr Eila ins Gemach bringen würde. Dann erinnerte sie sich, dass sie vorhatten, heute zusammen mit Brangasne, ihrer Zofe, in die Felder zu gehen und Kräuter zu sammeln. Im Moment gab es jede Menge verschiedenfarbigen Klee, mit dessen Blüten Isôt vor allem die Schmetterlinge verband, die sich darauf niederließen und die sie dann fangen konnte. Und außerdem würde sie ihrer Mutter wieder beweisen, wie gut ihre Nase wäre.
    Es war immer das gleiche Spiel: Eila pflückte Kleeblüten und auch andere blühende Gräser oder Pflanzen, versteckte sie vor Isôt, sie kamen nach Hause in das feste Gebäude mit den hohen Holztüren, in Königin Isoldes Schloss, wie sie es nannte, und dort ließ sie sich die Augen verbinden, roch an den Blüten und nannte die Farbe, die sie hatten. Ihre Mutter wählte immer fünf Blüten aus. Wenn Isôt alle richtig erroch, bekam sie zur Belohnung ein Stück von einer Honigwabe, die sie über alles liebte.
    Einer von Isoldes Bediensteten, Rago, Sohn eines Normannen, beschaffte sie für seine Königin. Er kannte die Bienen und ihre Häuser und Höhlen besser als die eigene Stube, in der er lebte. Einmal hatte er behauptet, dass auch Bienen eine Königin hätten. Das ging Isolde dann doch zu weit. »Die einzige Königin, die es hier gibt, bin ich«, soll sie gesagt haben. Dabei hatte Rago sie gar nicht beleidigen und erst recht nicht das Volk der Eruis mit einem Volk der Bienen vergleichen wollen.
    Auch Isoldes Tochter mochte Rago. Er durfte sich aber immer nur in ihrer Nähe aufhalten, wenn er ihr eine Bienenwabe gab. Zum Glück reichte dieser kurze Moment ihrer Begegnung oft dafür aus, dass er ihr etwas berichten konnte. Das letzte Mal war es eine schreckliche Nachricht gewesen: Die weiblichen Bienen würden nach einer Zeit ihre Brüder töten, obwohl diese viel größer wären als ihre Schwestern.
    So etwas konnte sich Isôt nicht vorstellen und wiederholte zum Schluss gedankenlos die Gebetsformel, die Eila ihr vorsprach: »Leb ewig

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