Tristan
einer Fliese. Das hätte das Loch in seinen Gedanken sein können, denn ihm fiel plötzlich der Name des Jungen nicht mehr ein. »Er heißt …«, stammelte er nochmals.
»Was ist es also«, forderte Marke ungeduldig, »was du willst und was du mir zu sagen hast?«
»Dass um Eure Schwester ein Geheimnis besteht.« Hoggard redete einfach drauflos, wie er es beobachtet hatte, dass es die Leute taten, wenn sie eigentlich nichts zu sagen hatten. »Niemand hat sie gesehen«, fuhr er fort, »sooft wir auch nach ihr fragten, und dass es einen Jungen gibt, von dem niemand weiß, woher er stammt, obwohl er durch die Welt reist. Und Mönche in Italien, hinter diesen furchtbaren Bergen, wollen gesehen haben, dass er ein Muttermal am Bein trägt.«
»An welchem?«
Hoggard zögerte. Er wusste, dass es diese beiden Wörter gab, rechts und links, aber er verwechselte sie immer. Und wenn er jetzt das falsche Wort benutzte, so viel spürte er, konnte ihm das Kopf und Kragen kosten. Doch einen Kragen wie die Herren besaß er ja gar nicht. Es ging nur um seinen Kopf. Als ihm das klar wurde, schlug er sich kurz auf das rechte Bein und sagte: »Dieses.«
Da stutzte Marke. Der Mann hatte auf das richtige Bein gezeigt, er schien von Blancheflurs Muttermal zu wissen. Es war also etwas Wahres an den Worten. Vielleicht lebte Blancheflur doch noch, vielleicht hatte sie tatsächlich einen Sohn. Eine Welle der Erinnerung an seine Schwester überkam ihn. Sechs Jahre, dachte er, vielleicht sieben, was war in diesen vergangenen sieben Jahren geschehen? Wie oft hatte er an seine Schwester gedacht - und wie wenig! Vergessen hatte er sie manchmal, weil diese Kämpfe an der Küste mit den Iren, die Streitigkeiten im Norden, weil die Not der Leute seine Kräfte manchmal regelrecht auffraßen! »Geh jetzt!«, sagte er zu Hoggard. »Aber bleibe in meiner Nähe.«
»Und die Goldmünze?« Hoggard stieß diesen Satz beinahe flehentlich hervor.
»Da hast du sie.« Marke warf sie ihm hin, um ihn loszuwerden. Hoggard griff so schnell danach, dass man kaum sehen konnte, wie sie in seiner Hand verschwand. Gleichwohl verharrte er auf den Knien. »Geh jetzt!«, herrschte Marke ihn nochmals an.
»Die zweite«, sagte Hoggard leise und bewegte sich nicht. Einen geschlagenen Hund …, dachte er. »Welche zweite?«
»Ihr habt versprochen, wenn einer von uns …«
»Habe ich versprochen - ja.«
»Und die von Pint?«
»Was willst du noch?«
»Drei Goldmünzen, Herr.«
»Drei Goldmünzen?« Marke riss die Augen auf und sah dieses Menschlein mit seinen wirren Haaren rund um den Kopf und den verdreckten Kleidern, das vor ihm lag wie ein Haufen Elend, zum ersten Mal richtig an. Er lachte, als wenn er ihn dadurch loswerden könnte, und ärgerte sich zugleich darüber, sich auf dieses Spiel überhaupt eingelassen zu haben. Seine Schwester war längst nicht mehr am Leben, sonst wäre sie zu ihm zurückgekehrt. Warum also hatte er diese Späher ausgeschickt? Warum meldete sich nur einer von vierzig nach sechs langen Jahren und verlangte nun drei der Münzen? Marke begann zu rechnen. Vierzig und vierzig waren achtzig. Wie er sich kannte, hatte er um der Gerechtigkeit willen achtzig Münzen prägen lassen aus purem Gold. Das war ein Vermögen. Vierzig hatte er verteilt an die Späher. Wo waren die anderen vierzig?
Er rief nach dem Chronisten.
Der stand gleich neben ihm, als wäre er nie fortgegangen. »Wie viele Münzen habe ich seinerzeit prägen lassen? Du weißt, wovon ich spreche?«
»Ich ahne es, Herr.«
»Wie viele also?«
»Sechsundneunzig.«
Marke horchte auf. »Warum sechsundneunzig?«
»Ihr hattet zwei Kugeln Gold, Herr, wenn ich Euch daran erinnern darf. Eine gabt Ihr Eurer Schwester, die andere, die noch in Eurem Besitz war, habt Ihr einschmelzen und in Münzen umprägen lassen. Es waren genau sechsundneunzig, die daraus entstanden. Ihr wart selbst dabei, als dies geschah.«
»Jetzt erinnere ich mich«, gab Marke vor. An nichts mehr konnte er sich erinnern. Er war wie von Blindheit geschlagen, als er damals erfuhr, dass seine Schwester verschwunden war. Alles, was er danach tat, geschah nur, damit es eine Bewegung im Stillstand seiner Gefühle gab. Deshalb hatte er das Gold umschmelzen lassen. Jetzt hörte er wieder die Geräusche und sah auch vieles vor sich: den kargen Raum, die Feuerstelle, das zischende Wasser, den Schlag das Hammers bei der Prägung, und er vernahm noch die Stimme des Münzprägers, Godwin hieß er und war zwei Jahre danach
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