Tristan
eingeschleust hatte. Wie die Spielmänner seiner Zeit trug er einen Mantel aus Stoffresten, man sagte, sie stammten von den Kleidern der Toten auf den Kampffeldern. Die Krieger, ob sie am Sterben waren oder für immer die Augen geschlossen hatten, wurden nach dem Kampf all ihres Hab und Gutes beraubt. Die siegreichen Reiter nahmen ihnen nur das Wertvolle ab, Waffen, Rüstung, Gürtel, das camisole aus Leder, Schuhe und Stiefel, und manchmal fanden sie sogar einen Ring oder einen bunten Stein an einem Halsband. Nach den Reitern kamen die Lumpensammler, wie man die Armen nannte, von denen die Toten bis auf den nackten Körper gefleddert wurden. Von denen kauften die Spielmänner und Troubadoure Stofffetzen, die sie zusammennähten. Je bunter und scheckiger sie waren, desto besser.
Lieven trug auf dem Kopf eine Mütze, zusammengesetzt aus mehr als einem Dutzend Fellstücken. Als er vor die »wunderschönen frowen«. trat - das waren Blancheflur, Floräte, zwei ihrer Cousinen, Elbeth war im Hintergrund dabei - und dann die »hohen Herren« begrüßte, allen voran Fürst Riwalin, den Marschall Rual, den Kämmerer Jetoullet, die Ritter Kenstad und Berwan -, als alle erstaunt waren, wie gut dieser Sänger sich auszukennen schien und jeden mit Namen ansprach, zog er seine Mütze vom Kopf, löste zwei Bänder, klappte die Kopfbedeckung auseinander und zeigte sie, ausgebreitet wie eine Landkarte, den vor ihm Sitzenden.
»Nun sagt mir, was Ihr erblickt!«,begann Lieven seinen Vortrag. Er sprach mit hoher, fast singender Stimme. »Die einfache Kappe eines Spielmanns, werdet Ihr denken«, fuhr er fort. »Was aber seht Ihr, wenn Ihr das Muster dieser Kappe betrachtet? Hier unten ist ein Stück Rehfell. Es ist glatt und glänzend, es stammt aus dem Süden, aus einem Land, das man espania nennt. Darüber findet ihr Borsten, rauhe Haut - dieses Teil kommt aus Italien. Und dort, wo ihr ein Loch seht, an das ich jetzt mein Auge halte, dort wohnt der römisch-katholische Papst.«
Lieven hatte noch nicht ausgeredet, da klatschte Floräte vor Vergnügen in die Hände. Das Auge des Papstes hinter einer Spielmannsmütze zu verstecken, schien ihr ein wunderbarer Einfall.
»Und hier nun wohnen die Germanen, neuerdings die teutschen oder auch aleman geheißen«, fuhr Lieven fort. Noch immer hielt er sich die aufgeklappte Kappe vors Gesicht und wanderte damit vor seinem Publikum herum, während seine freie Hand über ein grauschwarzes Fellstück fuhr, das wie ein verlaufener Fleck aussah. »So sind die Teutonen, so ist ihr Land«, sagte er. »Seit Carolus dem Großen und zum Glück Einzigen wabern sie in unserem Reich herum wie eine Qualle, von denen Ihr in Eurem Meer so manche findet! Hier indes!«, und damit zeigte er auf ein kleines glattes Lederstück am Rand der Kappe, »hier befindet Ihr Euch auf der Weltkarte. Darüber hinaus und um alles herum« - nun wischte er mit der Hand über seinem Kopf in der Luft herum - »befindet sich das unbewohnbare Meer, und oberhalb des Meeres liegt eine Insel, die heißt Engeland. Der gegenüber, also hier« - seine Hand fuhr nach links über den Kopf und ballte sich dort zur Faust - »hier liegt Erui, ebenfalls umspült vom Meer, und dort ist zwei Monde, bevor ich dieses Eiland verließ, etwas Merkwürdiges geschehen. Ein Kind wurde geboren, mitten im Winter, und als es zur Welt kam, schickte Gott Blitze vom Himmel. Das Meer schäumte, aus den Wellen stiegen Ungeheuer mit riesigen Nasen und Mäulern. Weil aber über dem Haupt des Kindes ein Schimmer schwebte wie bei der Morgenröte, wurde das Neugeborene >die Schöne< genannt, Isôt mit Namen. Eine Königstochter, Ishelut ihre Mutter, ihr Vater der mächtige Herrscher über Erui, kein anderer als König Gurmûn, von dem man berichtet, er esse Menschenfleisch.«
Als Lieven dieses Wort ausgesprochen hatte, verbreitete sich unter den Zuhörern allergrößte Unruhe. Blancheflur lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, fasste sich an den Bauch und begann zu stöhnen. Riwalin war aufgesprungen und wollte den Sänger zurechtweisen, dass vor den mesdames solch Schreckliches nicht ausgesprochen werden sollte, doch er bezähmte sich, und über seine Lippen kam die Frage: »Warum soll dieses Kind besonders schön gewesen sein. Sind nicht alle Neugeborenen gleich schön?«
»Ihr vergesst den Schimmer der Morgenröte um ihr Haupt, als Isôt geboren wurde«, entgegnete Lieven mit süßlicher Stimme.
»Hast du diesen Schimmer gesehen?«, wollte Riwalin
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