Tristan
Herrin, um ihr zu zeigen, dass er ihre Weisung hinnahm, deswegen aber nicht aufgeben würde. Linnehards Misstrauen verletzte zwar sein eitles Wesen, forderte jedoch im selben Moment seine Verschlagenheit heraus, und er ersann eine List: Nicht mehr den flinken Tristan würde er verfolgen, sondern die behäbigen Schritte eines alternden Mannes.
Noch am selben Tag setzte er seinen Plan in die Tat um. Nach dem Mittagsmahl sah er Linnehard sein Wachhaus verlassen und einen Weg einschlagen, der zur westlichen Mauer der Burg führte. Yella folgte ihm im Schutz von Zäunen und Büschen, Ställen und Hausecken und gelangte so zu der Stelle der Burgmauer, an der Linnehard überprüfen wollte, ob es Zeichen dafür gab, dass der geheime Austritt aus der Burg vom Sohn des Marschalls entdeckt und benutzt worden war. Er achtete darauf, dass er selbst unbeobachtet blieb, schaute sich immer wieder um, tat so, als würde er etwas inspizieren, und pfiff sogar vor sich hin. Als er, bei dem geheimen Mauerstück angekommen, entdeckte, dass dort über der Luke im Boden das Gras niedergetreten war, verlor er seine Vorsicht, berührte rasch den eingelassenen Mechanismus zur Öffnung des Schachts und bemerkte frische Grashalme und Lehmspuren auf den Stufen, sodass er folgerte, dass hier jemand erst vor Kurzem hinabgestiegen sein musste.
Augenblicke lang war Linnehard vor Schreck wie betäubt und wusste nicht, was er tun sollte. Da die Wachen auf ihrem Rundgang jeden Moment zurückkommen und ihn entdecken konnten, bestand die Gefahr, dass im Handumdrehen das ganze Burgvolk über den geheimen Gang Bescheid wüsste. Im Fall einer wirklichen Gefahr würden dann schon die ersten Flüchtenden diesen Ausgang verstopfen.
Linnehard fühlte bei dieser Vorstellung sein Herz klopfen. Schnell verschloss er das Loch in der Erde wieder und entfernte sich eilig von der Stelle. Auf seinem Rückweg zum Wachhaus entschloss er sich, zu niemandem ein Wort zu sagen und abzuwarten, bis Rual von seiner Mission zurückgekehrt wäre.
Derart mit sich selbst beschäftigt, entging ihm die Anwesenheit Yellas, der sich in der Nähe der Mauer nur dadurch hatte verbergen können, dass er sich bei einem Busch ins hohe Gras geworfen hatte und reglos da lag, als der Haupt mann so dicht an ihm vorbeilief, dass er ihm fast an die Rockzipfel seines Mantels hätte greifen können. Gern wäre er aufgesprungen und hätte dem dummen alten Mann, wie Yella den Hauptmann bei sich nannte, gezeigt, dass er ihn überlistet hatte. Wie ihm nun auch Tristan in die Falle gehen würde. Aber er beherrschte sich, blieb still liegen und genoss sein innerliches Lachen, das er im ganzen Leib wie ein Vibrieren spürte.
Yella singt ~72~ Die Entenjagd
Voll diebischer Vorfreude auf seinen baldigen Erfolg hatte sich Yella unweit des Eingangs zum Hauptgebäude der Burg einen Platz gesucht, um auf die Rückkehr Tristans zu warten. Er schnitzte an einem Stock und sang im Takt, mit dem er den Dolch über das runde Holz gleiten ließ, ein altes Lied: »Möchtet sehen, was der Mai euch Wunderbares bringt, wie er zaubert und das neue Leben ihm gelingt.«
Mehr Strophen kannte Yella nicht, deshalb sang er die eine immer wieder von Neuem, mal schnell, mal langsam, je nachdem wie rasch die Schneide Stücke vom Holz schabte.
So beschäftigt fand ihn Tristan, als er sich vor Sonnenuntergang der Treppe näherte. Yella blickte von seiner Arbeit auf, als er ihn bemerkte. »Na, junger Herr«, sagte er, »wo seid Ihr gewesen? Alle Welt hat Euch gesucht. Die Herrin hat mich geschickt, um Euch zu finden. Doch ich konnte nur auf Euch warten, bis Ihr zurück seid.« Um der Wahrheit seiner Worte Nachdruck zu verleihen, war Yella aufgestanden und hatte sich leicht vor Tristan verbeugt.
»Ich war bei dem Fischteich hinter den Ställen«, sagte Tristan. Er hatte dieses ständige Lügen satt, es half ihm aber, und deshalb verbeugte er sich auch ein wenig vor Yella, um ihn zu beschwichtigen.
»Bei den Fischteichen? - Da war ich doch auch, hab Euch aber nirgends gesehen.«
»Ich habe mich versteckt.«
»Wo denn und warum?« Yella war ein paar Schritte auf Tristan zugetreten und blickte auf den Jungen hinab.
Tristan ging instinktiv ein paar Stufen die Treppe hinauf und sah dadurch Yella auf gleicher Höhe in die Augen. »Ich saß im Schilf und hab auf die Enten gewartet, um eine zu erlegen für morgen Abend. Doch dann kamst du und hast sie verscheucht, weil du wie ein Tölpel um den Teich herumgerannt bist.
Weitere Kostenlose Bücher