Troposphere
mich.
»Was ist mit der Zeit?«, sage ich.
»Was soll damit sein?«, fragt Lura.
»Nun ja, niemand glaubt, dass die Relativität erst seit 1905, oder wann das auch war, existiert. Man glaubt, dass die Relativität schon immer da war, aber niemand hätte sie vorher bemerkt.«
»Was glauben Sie denn?«, fragt Lura.
»Ich bin mir nicht sicher«, sage ich.
»Vielleicht funktioniert Zeit nicht ganz so, wie Sie annehmen«, sagt Lura. Aber sie sagt etwa eine Minute lang nichts mehr, und als ich in ihr von Falten durchzogenes Gesicht schaue, macht sie einen müden Eindruck.
»Wer ist die Schriftstellerin, von der Sie vorhin sprachen?«, frage ich. »Die dauernd auf den Anrufbeantworter spricht.«
»Ah«, sagt Burlem.
»Oh«, sagt Lura. »Sie ist an meinen Theorien interessiert, und sie hat ein paar von ihnen zu einer Kurzgeschichte verdichtet. Sie will sie in ›Nature‹ veröffentlichen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das möchte. Sie hat mir angeboten, meinen Namen darüberzusetzen, aber ich weiß nicht, ob ich meinen Namen jetzt schon damit in Verbindung gebracht sehen möchte. Und was mein Buch betrifft …«
Luras Blick löst sich von meinem und lässt sich irgendwo auf dem Tisch nieder.
»Wie heißt denn Ihr Buch?«, frage ich sie.
»›Poststrukturalistische Physik‹«, antwortet sie. Jetzt setzt das Klick-klick-klick-Geräusch aus. Sie seufzt und legt ihr Strickzeug ab. »Es wird natürlich nie veröffentlicht werden.«
»Warum nicht?«, frage ich.
»Weil es keinen Beweis für irgendetwas von dem gibt, was ich heute Abend gesagt habe. So etwas wie eine poststrukturalistische Physik gibt es nicht. Ich brauche mir nur vorzustellen, wie ich versuche, das meinen älteren Kollegen zu erklären. Die würden denken, ich wäre verrückt geworden. So ist das manchmal mit Leuten nach ihrer Pensionierung. Sie …« Sie zuckt mit den Schultern, eine kleine, kaum wahrnehmbare Bewegung. Sowohl Burlem als auch ich warten darauf, dass sie mit ihrem Satz fortfährt, aber alles, was sie sagt, ist: »Na ja.« Dann greift Burlem nach dem Wollknäuel, das zu Boden gefallen und unter Luras Sessel gerollt sein muss, ohne dass ich es gemerkt habe.
»Und was ist mit der Troposphäre?«, frage ich.
»Die Troposphäre wird bald verschwunden sein«, antwortet Burlem.
»Verschwunden? Aber … wie?«
»Sie werden sie vernichten«, sagt er.
Kapitel fünfundzwanzig
Ich sitze auf dem Bett, und die Gedanken flattern mir durch den Kopf wie chaotische Schmetterlinge.
Ach du Scheiße.
Jetzt verstehe ich, warum Apollo Smintheus sich so für mich interessiert hat.
Ich kann also Dinge in den Köpfen der Menschen verändern – genauso wie die KIDS. Ich kann bei Leuten wie Martin Rose ein derart dringendes menschliches Bedürfnis bewirken, dass er seinen Wachposten verlässt. Und ich habe Wolf dazu gebracht, Adam zu verschweigen, wo das Buch war, als einer der Männer vom Project Starlight mit Sicherheit in Adams Kopf war und mithörte. Aber ich dachte, das könnte jeder. Ich dachte nicht, dass ich da irgendwas Besonderes kann. Jetzt stellt sich heraus, dass es doch so ist. Lura glaubt auch, dass ich vermutlich im Maschinencode denken kann, dass ich dieses Potenzial habe. Und das ist der Grund, weshalb Apollo Smintheus will, dass ich Abbie Lathrop ausfindig mache und mit ihrer Hilfe die Geschichte ändere. Und jetzt wollen Burlem und Lura, dass ich noch weiter zurückgehe und Lumas überrede, das Buch erst gar nicht zu schreiben. Sie sagen, ich kann mir für die Planung meiner Reise so viel Zeit nehmen, wie ich will – schließlich wird mit dem Buch auch die Kenntnis des Buchs verschwinden. Die Männer vom Project Starlight werden das Buch im Priorat nicht finden, weil das Buch nicht mehr dort sein wird. Es wird kein Project Starlight geben. Aber ich mache mir schon wieder Sorgen wegen der Paradoxien, sie bringen meine gedanklichen Höhenflüge schnell wieder auf die Erde. Wenn ich das schon getan und damit Erfolg gehabt hätte, müsste ich nicht mehr gehen. Und ich habe auch nicht wirklich alle Zeit der Welt. Martin und Ed könnten morgen hier aufkreuzen und mir das Gehirn rauspusten. Die Tatsache, dass sie hier sind, in dieser Welt, und das vorhaben – das bedeutet doch sicherlich, dass ich schon mal keinen Erfolg gehabt habe.
Es sei denn … vielleicht funktioniert Zeit nicht so, wie wir alle denken.
Aber vielleicht denke ich besser nicht allzu viel darüber nach … ich habe tatsächlich ein bisschen Angst
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