Troposphere
Holz ist nicht kalt. Wie alles hier drinnen scheint es keine Temperatur zu haben. Winzige Regentropfen fallen vom Himmel, aber sie fühlen sich nicht nass an.
»Ariel«, sagt Adam und ergreift meine Hand.
»Warum hast du das getan?«, frage ich ihn.
»Ich wollte wissen …«, antwortet er.
»Was wolltest du wissen?«
Er zuckt mit den Schultern. »Einfach wissen. Ich konnte nicht zurück.«
»Aber … warum wolltest du mich finden?«
»Ich musste einfach. Und ich habe dich vermisst.«
Ich hole ganz langsam tief Luft. Dann seufze ich. »Ich hab dich auch vermisst. Aber …«
»Was?«
»Mist. Adam. Warum?«
Er zuckt wieder mit den Schultern. »Apollo Smintheus hat gesagt, du brauchst mich.«
»Ich hätte dich gefunden, wenn ich rausgekommen wäre. Ich hätte …«
Adam wendet den Blick von mir ab und schaut auf den Fluss. Eine Eule ruft.
»Scheiße«, sage ich. »Dann ist alles zu spät. Nichts bedeutet mehr was. Alles ist …«
»Sag es nicht. Komm einfach mit mir.«
Er nimmt meine Hand, und wir stehen auf. Wir gehen auf dem Pfad an unzähligen Bäumen vorbei, die in den Himmel zu reichen scheinen. Mondlicht glitzert auf den Blättern, und Fledermäuse flattern zwischen den Bäumen hin und her wie Schattentheaterfiguren vor der Schwärze des Himmels. Bald kommen wir zu einer Lichtung: ein Kreis mit dickem, weichem Gras, von Bäumen umgeben. Als wir die Lichtung betreten, zieht Adam mich sofort an sich.
»Ariel«, sagt er. Und küsst mich.
Aber was ist los? Dieser Kuss ist eine Million Küsse. Dieser Kuss ist alle Küsse. Unsere Lippen scheinen sich mit der Kraft von zehntausend Wirbelstürmen aufeinanderzupressen, und als seine Zunge auf meine trifft, fühlt es sich an wie die weichste Elektrizität, ein Elektroschock von einer Million Volt in extremer Zeitlupe, ein Elektron nach dem anderen und jedes Elektron so groß wie die Sonne.
Und am Himmel zuckt ein Blitz.
Der Regen beginnt auf den Boden einzuhämmern, aber ich spüre ihn nicht.
Adam zieht mich hinunter ins Gras.
Während ich die Augen schließe, sehe ich noch rings um uns Tornados, aber ich kann nicht mal einen Luftzug spüren. Meine Kleider sind verschwunden. Ich bin so nackt, als trüge ich nicht mal Haut. Adams straffer Körper bewegt sich über meinen. Und als er in mich eindringt, ist es so, als würde ich von innen nach außen gestülpt und als durchdränge mich die ganze Welt, als würde ich alles in mir bergen.
Danach liegen wir beide zitternd auf dem Boden. Ich weiß jetzt alles über Adam, und er weiß alles über mich.
»Oh …«, sagt Adam.
»Ja.«
»Oh … ist das …?«
»Nein.«
»Du weißt nicht, was ich fragen wollte.«
»Doch, das weiß ich. Du wolltest fragen, ob Geschlechtsverkehr immer so ist.«
Er nimmt mich bei der Hand. »Na ja, etwas in der Art.«
»Und die Antwort ist: nein.«
»Aber wir haben es noch nie gemacht«, sagt er, und ich sehe, wie er im Mondlicht lächelt.
Ich stelle mir Tornados in der Umgebung der Kapelle des hl. Judas vor. Aber vielleicht hat er recht.
Ich lege den Kopf auf seine Schulter, und er legt den Arm um mich. Ich fühle mich so klein und warm, als wäre ich ein Senfkorn in seiner Handfläche. Aber zugleich habe ich das Gefühl, als wäre ich diejenige, die ihn festhält. Er existiert jetzt nur hier. Und wenn ich es tue und dann zurückgehe … Hör auf zu denken, Ariel. Ergreife einfach diesen Augenblick. Aber wenn es keine Troposphäre mehr gibt, werde ich Adam nie mehr wiedersehen können. Vielleicht gehe ich zurück und stelle fest, dass ich nicht mal weiß, wer Adam ist. Vielleicht werde ich ihn nicht vermissen, weil ich nie wissen werde, dass ich ihn gekannt habe.
Aber wenn das Buch das einzige Ding ist, das verschwindet? Wenn ich dafür sorge, dass es nie geschrieben wurde?
Dann kenne ich Adam vielleicht. Vielleicht ist er in mein Büro eingezogen. Vielleicht ist der Eisenbahntunnel eingestürzt. Aber nicht wegen Burlem. Und vielleicht bin ich trotzdem eine Doktorandin geworden. Vielleicht nahm Burlem trotzdem an der Konferenz in Greenwich teil, aber mit einem andern Thema. Vielleicht hat er über Samuel Butler geredet. Da wäre ich hingegangen. Wir hätten uns trotzdem unterhalten, und wir hätten uns trotzdem zusammen betrunken, und wir hätten trotzdem nicht miteinander geschlafen, und alles wäre mehr oder weniger das Gleiche gewesen.
Ich kann irgendwie sehen, wie das funktionieren könnte.
Aber Adam wäre immer noch tot.
Vielleicht wäre es ja so, dass mich
Weitere Kostenlose Bücher