Troposphere
Baudrillards »Die Illusion des Endes«. Auf dem Weg hinunter zur Mensa hielt ich es hoch gegen die einzige verfügbare Lichtquelle: das Fenster in der Rückwand des Speisesaals, und das war der Moment, in dem ich es sah. Das Dia war auf der Rückseite ganz geschmolzen, aber nicht das Bild. Das Bild war perfekt. Aber als ich versuchte, Details wahrzunehmen, stellte ich fest, dass ich durch das Dia auf die Kathedrale schaute und die beiden Bilder eins wurden. Darauf verliebte ich mich in das Dia, nahm es mit in mein Büro und versuchte, es irgendwie an die Wand zu projizieren. Aber ich bekam es nicht hin, und ich weiß nicht, wo das Dia jetzt ist. Danach habe ich mehr Baudrillard gelesen.
Heute stehen die Tische in ihrer üblichen Anordnung, aber es stehen keine Wasserkrüge darauf, und kein Mensch ist zu sehen; die ganze Mensa ist, wie ich befürchtet hatte, geschlossen. Ich könnte in eines der anderen Gebäude gehen, aber das scheint mir für ein Brötchen ein eher übertriebener Aufwand zu sein, also gehe ich zurück in mein Zimmer und esse die zwei Schokoladenriegel ohne Beilage. Dann trinke ich einen Kaffee und rauche eine Zigarette und warte auf den Techniker. Ich versuche, nicht traurig darüber zu sein, dass dies womöglich der letzte Tag ist, den ich allein im Büro sitze, aber das ist nicht leicht. Ich vermute, dass ich keine Gelegenheit mehr haben werde, hier drinnen Selbstgespräche zu führen oder auf der Fensterbank sitzend zu rauchen oder unter dem zweiten Schreibtisch einzuschlafen. Werden die Neuen die Jalousie in einem andern Winkel justieren? Werden sie Topfpflanzen mitbringen? Es stürmt einfach zu viel auf mich ein.
Um mir die Zeit zu vertreiben, öffne ich den Netzbrowser und suche nach dem Wort Troposphäre. Ich erwarte nicht, dass irgendwas dabei rauskommt, aber dann stelle ich fest, dass das Wort existiert. Es ist ein Teil der Erdatmosphäre, und zwar der, wo das meiste Wetter vorkommt. Konnte Lumas das übersehen haben? Ich war davon ausgegangen, dass er sich das Wort ausgedacht hatte. Ich schaue im Oxford Dictionary nach, da steht, dass es zum ersten Mal im Jahr 1914 nachgewiesen ist. Also hat Lumas es in die Sprache eingeführt, aber niemand hat Notiz davon genommen. Aber warum auch? Schließlich ist es nur ein Roman. Nachdem ich den ganzen Eintrag gelesen habe, gebe ich »The End of Mister Y« in die Suchmaschine ein, ich will wissen, ob es online irgendwelche Informationen gibt, die ich noch nicht entdeckt habe.
Wenn man im Netz nach »The End of Mister Y« sucht, findet man normalerweise drei Links. Einer ist eine alte Zusammenfassung des Vortrags, den Burlem auf der Konferenz in Greenwich gehalten hat. Der zweite ist ein Thread in einem Diskussionsforum auf einer Website für antiquarische Bücher, eine Anfrage nach dem Buch, auf die noch niemand geantwortet hat. Der dritte Link ist ein bisschen geheimnisvoller. Es ist im Grunde eine Fansite, schwarzer Hintergrund, ein paar gotische Schnörkel, und soweit ich weiß, war da eine ziemliche Menge an Informationen über das Buch drauf. Es gab eine Seite über den Fluch und eine andere, auf der darüber spekuliert wurde, warum es auf der ganzen Welt keine Exemplare von dem Buch mehr zu geben scheint. Der Sitebetreiber schien sich eine Verschwörungstheorie zurechtgelegt zu haben, nach der die Regierung der Vereinigten Staaten alle bekannten Exemplare aufgetrieben und vernichtet hat, einschließlich dem in dem deutschen Banktresor (das, diesem Typen zufolge, einmal Hitler gehört hat). Er sagte nicht, warum das so sei, machte aber Andeutungen, es handele sich um ein wichtiges Geheimnis, von dem niemand Genaueres wüsste. Ich glaube, in Wirklichkeit verhält es sich bloß so, dass die Druckauflage dieses Buches von Anfang an nicht besonders hoch war, und wenn ein Buch mehr als hundert Jahre Zeit hat, der Vergessenheit anheimzufallen, dann kann es eben einfach passieren, dass es verschwindet. Jedenfalls hat die Website vor etwa sechs Monaten oder vielleicht schon ein bisschen davor zugemacht. Ich checke sie heute wieder, und sie sieht genauso aus wie beim letzten Mal, als ich nachgeschaut habe. Es gibt keine Fehlermeldung oder so, auf der Startseite steht einfach: »Sie haben mir den Laden dichtgemacht, und ich bin gegangen.«
Faszinierenderweise gibt es heute einen vierten Link zu »The End of Mister Y«. Es ist ein Blog namens »Einige Tage aus meinem Leben«, und als ich den Link anklicke, werde ich auf eine pinkfarbene und weiße Seite
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