Troposphere
mit verschiedenen Tagebucheinträgen weitergeleitet. Ich überfliege den Inhalt, kann die Erwähnung aber nicht entdecken. Mit Hilfe der Suchfunktion finde ich sie dann aber doch. Es ist der Eintrag von letztem Freitag.
Musste wieder in dem Buchladen arbeiten (vielen Dank auch, Sam), trotz eines Wahnsinnskaters. Verbrachte den Tag mit dem Abstauben von Büchern, was merkwürdig heilsam war. Hatte keine Kunden, abgesehen von dieser Studentin, die reinkam und fünfzig Mäuse für ein Buch mit dem Titel »The End of Mister Y« bezahlte, von dem ich noch nie gehört hatte, das aber ziemlich selten sein muss. Vielleicht steige ich ins Antiquariatsgeschäft ein. Was hältst du davon, Sam? Wir könnten Partner werden, das Scheißstudium knicken und ein Vermögen an solchen Leuten verdienen, die bereit sind, unglaublich viel für alte Bücher hinzublättern. Das kann doch nicht so schwer sein.
Es klopft an der Tür, ich klicke den Browser sofort weg.
Es ist der Techniker. »Ariel Manto?«, liest er von einem Zettel ab.
»Ja«, sage ich.
»Ich komme, um ein neues Passwort einzurichten«, sagt er.
»O ja. Toll«, sage ich. »Es geht um den Rechner hier drüben.«
Ich versuche, mich mit etwas anderem zu beschäftigen, während er da rumbastelt, weil ich glaube, dass die ganze Geschichte weniger verdächtig wirkt, wenn ich kein Aufhebens darum mache. Deswegen versuche ich, nicht zu erklären oder zu rechtfertigen, warum ich das neue Passwort für den Rechner brauche; ich lasse ihn einfach seinen Job machen, während ich damit anfange, meine Notizen zu »Mr. Y« abzutippen. Idealerweise würde ich gern ein ganzes Kapitel meiner Doktorarbeit »The End of Mister Y« widmen. Angesichts meiner Besessenheit könnte ich das ziemlich schnell schreiben, aber es wäre auch für sich ein toller Artikel oder ein großartiger Konferenzvortrag. Das einzige Problem ist, dass ich mir nicht sicher bin, wie ich es als Gedankenexperiment verkaufen könnte.
Gedankenexperimente sind Experimente, die, aus welchem Grund auch immer, nicht physisch durchgeführt werden können, sondern stattdessen im Geiste durchgespielt werden müssen, durch logisches Denken. Ethische und philosophische Gedankenexperimente gibt es seit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren, aber erst, als man im naturwissenschaftlichen Kontext damit begann, solche Experimente einzusetzen, versah man sie mit dem Namen »Gedankenexperiment«, auch wenn Lumas sie immer als »Experimente des Geistes« bezeichnet hat. Der Lichtäther ist das Ergebnis eines solchen Gedankenexperiments, es postuliert, dass das Licht, falls es eine Welle sei, eine Welle in irgendeiner Substanz sein müsse. Man kann keine Welle im Wasser ohne Wasser haben – wo war also die »Flüssigkeit« des Lichts? Als Antwort darauf erfand man den Lichtäther, aber das wurde wieder verworfen, als dann eben das Experiment von Michelson und Morley bedauerlicherweise bewies, dass es keinen Äther gab.
Edgar Allan Poe machte sich die Prinzipien des Gedankenexperiments zunutze, um das Olbers'sche Paradox zu lösen und um, wie manche glauben, im Groben die Theorie des Urknalls gute hundert Jahre vor irgendeinem anderen zu erfinden. Sein von ihm als Prosagedicht bezeichneter Essay »Heureka« führt seine verschiedenen wissenschaftlichen und kosmologischen Gedanken aus, aber Poe war kein experimenteller Naturwissenschaftler, und deswegen präsentierte er diese Theorien in Form von Gedankenexperimenten beziehungsweise als »Gedanken eines Gedankens«, seiner Umschreibung der Unendlichkeit. Seine Lösung des Olbers'schen Paradoxes ist eines der elegantesten Gedankenexperimente überhaupt. Im Jahr 1823 fragte sich Wilhelm Olbers, warum wir die Sterne am Nachthimmel so sehen, wie wir sie nun mal sehen. Zu der Zeit glaubten die meisten Menschen, das Universum sei unendlich und ewig. Wenn der Himmel also unendlich ist, muss er doch mit Sicherheit eine unendliche Zahl von Sternen enthalten? Und wenn es eine unendliche Zahl von Sternen gibt, muss unser Himmel weiß sein und nicht schwarz. Olbers dachte, es sei alles auf Staubwolken zurückzuführen, und schrieb: »Wohl uns! dass nicht jeder Punkt des Himmelsgewölbes Sonnenlicht auf die Erde herabsendet.« Edgar Allan Poe dachte gründlich darüber nach und kam zu dem Schluss, dass eine einfachere und plausiblere Lösung für »die Leere, welche unsere Teleskope in ungezählten Richtungen finden«, darin bestehe, dass einige der Sterne einfach so weit entfernt
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