Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Troposphere

Troposphere

Titel: Troposphere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
Vom Netzwerk:
das ich vor langer Zeit mal hatte. Der blasse Beton unter mir (und ich spüre, wie ich meinen Begriff dafür verwende, Beton) ist kalt wie ein Eiswürfel (dito), und deswegen gehe ich schneller. Aber mir ist warm genug. Ich habe gerade erst mein Nest verlassen, und die Erinnerung an so viel Fell und den Geruch meiner Familie (ich übersetze hier synchron, und mit »Familie« komme ich diesem erinnerten Gefühl von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit am nächsten) beruhigt mich wie heißer Sirup (dito). Ich bin wieder eine Maus (denke ich). Aber ich bin frei.
    Da ist etwas zwischen meinen Hinterbeinen: Dieser Maus ist es vertraut, aber mir nicht. Es fühlt sich so merkwürdig an wie mein Schwanz, aber während mein Schwanz wie ein zusätzliches Körperteil ist, fühlt sich dieses neue Ding aufgemotzt an wie eine Klitoris, aber es ist mehr davon da, und es reicht von meinem Magen bis zu einem Punkt außerhalb von mir. Jetzt kribbelt es, während heiße Flüssigkeit da herauskommt und auf den Beton plätschert. Und ich denke, dass dies andere fernhalten wird, und ich habe es immer schon deswegen getan. Mein Fell zuckt vor abstrakten Substantiven, einem unübersetzbaren, nicht menschlichen Gefühl von Stolz, Besitz, Zukunftsplanung und einem ständigen, dumpfen Verlangen nach Gewalt – meine Krallen im Rücken meiner kleinen, blassen Rivalen reißen Wunden in ihr Fleisch – und Sex. Vielleicht ist es das, wofür ich am allermeisten lebe: die Art, wie mein Gehirn zittert und weicher wird, während dieser klitorisartige Schwanz in das warme, enge Loch eines anderen Wesens hineinfährt, um wieder herauszufahren, rein und raus, und das Gefühl verströmender Süße, das sich schließlich in meinem Magen, meinem Rücken, meinen Beinen und meiner Kehle ausbreitet, so süß, dass ich umfalle, während ich sie umklammere, sie, wer immer sie sein mag. Es gibt Dinge, nach denen ich verlange – vielleicht ist dieses Verlangen alles, was ich bin –, aber ich scheine mich nicht länger damit aufzuhalten. Mein Denken funktioniert nicht im Sinne von: Ich will, ich will. Eher: Ich habe, ich habe. Nur eine Sache beschäftigt mich, während ich hier an diesem Ort umherwandere, mit den Mülltonnen auf Rädern, die größer sind als ich. Wo ist sie? Eine weniger. Eine fehlt. Eine verschwunden. Ich bin vielleicht nicht in der Lage zu zählen, aber ich kann mit Sicherheit subtrahieren. Das ist echt scheiße.
    Sogar ich bin angesichts der Vorstellung schockiert, dass eine Maus fluchen kann, bis mir klar wird, dass dies meine Gedanken sind, mit ihren verschmolzen: ihre Gefühle in meiner Sprache. Ich sollte versuchen, rauszukommen, aber das Gefühl, hier zu sein, sie zu sein, könnte fast zu einer Sucht werden. Alles an ihr steht unter Strom. Sogar ihre/meine Schnurrbarthaare vibrieren vor Elektrizität und Erwartung wie stromführende Drähte, die aus meinem Gesicht ragen. Sie bewegt sich jetzt, so viel leichter auf ihren Füßen, als ich es je auf meinen sein könnte, und es ist, als wäre man auf einem Jahrmarktskarussell. Wir bewegen uns über den Beton auf die andere Mülltonne zu, und ich weiß, wo ich hingehe, aber zur gleichen Zeit weiß ich es nicht, und jede Bewegung ist eine Überraschung. Es ist, als wäre man gleichzeitig Fahrer und Beifahrer. Und in diesen Bewegungen liegt eine solche Sicherheit, und die Empfindung, die ich jetzt spüre: die Empfindung, in ein Stück altes Brot zu beißen, mariniert vom Regen – ein Stück Brot, das ich als alt wiedererkenne, weil ich es weggeworfen habe, aber das jetzt köstlich zu sein scheint: ein pikanter Happen, wie Fleischextrakt auf Toast.
    Aber ich muss wirklich hier raus. Dieser Maus geht's prima, aber der anderen nicht. Sie ist in einer Falle, die ich aufgestellt habe, und ich muss sie daraus befreien. Ich denke Konsole!, als ob ich »Space Invaders« spiele oder Hauptdarsteller in einem Science-Fiction-Film bin, und ja, das Ding erscheint, legt sich wie ein Film über mein Gesichtsfeld. Ich habe vor, die milchigen Bilder nicht zu beachten, aber dann passieren zwei Dinge auf einmal: In dem Blickfeld hinter der Konsole – also dem Blickfeld der Maus – sehe ich eine orangefarbene Schliere, wie einen Marmeladenfleck, und auf der Konsole sehe ich ein Quadrat, in dem das gezeigte Bild nicht wie eine fremdartige Landschaft aussieht, ein Quadrat, in dem eine graue Maus neben einer großen Mülltonne auf dem Boden sitzt und an einem Kanten Brot knabbert. Das bin ich. Jemand schaut

Weitere Kostenlose Bücher