Trügerischer Friede
konnte es Norina nicht. Das schwarze Tuch vor ihrem Antlitz verhinderte, dass sie auch nur einen Hauch von den Zügen ihrer Besucherin erkannte. Je nachdem wie das Licht durch die Fenster fiel, waren die Umrisse ihres Gesichts sichtbar, mehr nicht.
»Raspot war nach außen hin ein guter Mensch. Ich fiel auf seine Maskerade herein, und dazu kam die Dankbarkeit, dass er mich trotz meiner Krankheit noch an seiner Seite haben wollte«, kam es krächzend unter dem seidigen Stoff hervor. »Dass er sich zu einem solchen Ungeheuer entwickelte, hätte ich niemals für möglich gehalten. Die armen Menschen, die wegen seinen wahnsinnigen Anordnungen zu Tode kamen, tun mir unendlich Leid.«
Nicht nur der Schleier, die gesamte Garderobe war in Schwarz gehalten; sogar die sehr, sehr schlanken und langen Finger steckten in Handschuhen.
Norina fand den Auftritt der Kabcara unheimlich und dachte unwillkürlich an ihren Gatten Lodrik. Elenja wurde von der gleichen unbestimmbaren Aura der Kälte, der Abweisung, des Jenseits umschlossen, die sie frösteln ließ.
Sie stand auf und schloss das Fenster, legte einen weiteren Scheit in den Kamin und fachte das Feuer von neuem an. »Die Menschen sind mutiger geworden. Sie haben gelernt, sich gegen Grausamkeiten aufzulehnen und solche Herrscher zu verjagen. «
»Euer Gemahl hatte das Unglück von seinen eigenen Kindern gestürzt zu werden«, raschelte es hinter dem Stoff hervor, der sich kaum bewegte, als ihn die Atemluft traf.
»Die Menschen liebten ihn dafür, dass er ihnen die Freiheit
brachte. Jedenfalls war es so bei den Borasgotanern.« Sie gab ein winziges Häufchen Marmelade in den Tee, verrührte ihn mit akkuraten Bewegungen und hob die Tasse unter den Schleier. Das gelang ihr, ohne dass Norina einen Bück von
ihrem Gesicht erhaschte. »Seid nicht traurig, das» Ihr meine Züge nicht seht«, sagte Elenja freundlich, da ihr der Blick »ehr wohl aufgefallen war. »Die Wundmale sind nicht schön und jagen selbst gestandenen Männern und Frauen Albträume ein.« »Schmerzt es?«
»Nur wenn ich lache«, gab Elenja zurück und klang, als lächelte Sie. »Aber ich bin nicht hier, damit Ihr mich bemitleidet, Kabcara Norina«, wechselte sie zum Grund ihres Besuchs »Die Borasgotaner sehnen sich nach den Freiheiten, Lodrik Bardric ihnen einst gab. Ihr habt das in Tarpol fortgeführt, was er begonnen hatte, richtig?«
Norina nickte und rätselte insgeheim, wie alt die Frau ihr gegenüber war. Die Stimme ließ keinerlei Schluss zu, die schmale Statur ebenso wenig. Stimmte es, was man sich über sie erzählte, konnte sie nicht mehr als neunzehn oder zwanzig Jahre alt »ein. Wenn sie sprach, klang sie wie ein altes Weib. Welch eine furchtbare Krankheit.
»Ja, wir haben Reformen aufgegriffen, die Lodrik schon in feinen ersten Jahren angedacht hatte«, sagte sie und fasste rasch zusammen, was in den kommenden Wochen in ihrem Königreich in Kraft trat, welche Rolle den Adligen
und wie genau die Umstellung vonstatten ging.
Elenja lauschte aufmerksam, trank gelegentlich von ihrem Tee und aß mit der gleichen Perfektion des Verborgenen ihren Kuchen, wie sie den Tee zu sich nahm. »Das ist sehr mutig von Euch, Kabcara Norina, Euch gegen die Adligen zu
stellen«, bemerkte sie.
»Man darf keine Schwäche zeigen«, riet Norina. »Es ist wie bei einem Kampf gegen einen mächtigen Krieger: Leistet Euch ein einziges Mal eine offene Stelle in Eurer Deckung oder vergesst, den todbringenden Schlag anzusetzen, und Ihr werdet es bitter bereuen.«
»Ihr gedenkt die Adligen demnach zu vernichten?« »Meine Waffen sind die Worte, die Gesetze und der Rückhalt beim Volk. Es geht darum, dass Ihr Euch Vertraute schafft, auf die Ihr Euch blind verlassen könnt. Sie helfen Euch, halten Euch den Rücken frei und sorgen dafür, dass keiner der eingebildeten Hochwohlgeborenen aus der Reihe tanzt. Die meisten von ihnen haben schon lange begriffen, dass sie keine Wahl haben.« Norina goss ihr Tee nach. »Habt Ihr niemanden aus Eurer Heimat, den Ihr an den Hof holen könnt? Alte Freunde?«
Elenja verharrte, und Norina glaubte schon, sie sei entweder im Sitzen eingeschlafen oder gar gestorben. »Nein, Kabcara Norina, ich habe keine Freunde. Jedenfalls nicht solche wie Ihr«, antwortete sie bedauernd. »Wie es aussieht, bin ich auf mich gestellt.«
»Wenn es Euch hilft, Kabcara Elenja, dann stehe ich Euch gerne bei«, bot Norina ihr an. »Einige meiner Beamten würden Euch bei Eurer Rückreise begleiten und
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