Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
tragischen Unfall überlebt haben. Und wahrscheinlich wäre es mir auch nicht gelungen, wenn mir die ständige Unterstützung und Ermutigung meines Mannes nicht geholfen hätten.«
Den letzten Satz hatte sie noch zu Eddys vorbereiteter Rede hinzugefügt. Mutig schob sie ihre Hand in die von Tate. Nach einem kurzen Zögern, das nur sie spürte, drückte er ihre Hand sanft.
»Mrs. Rutledge, halten Sie AireAmerica für verantwortlich für den Absturz?«
»Wir können dazu nichts sagen, bis nicht die Untersuchungen der Behörden abgeschlossen und veröffentlicht worden sind«, sagte Tate.
»Mrs. Rutledge, erinnern Sie sich daran, wie Sie ihre Tochter aus dem brennenden Wrack gerettet haben?«
»Jetzt ja«, sagte sie, bevor Tate antworten konnte, »anfangs war das anders. Mein Überlebenswille hat mich zum Handeln getrieben. Ich erinnere mich nicht daran, irgendeine bewußte Entscheidung getroffen zu haben.«
»Mrs. Rutledge, haben Sie irgendwann während der chirurgischen Rekonstruktionen an ihrem Gesicht gezweifelt, daß Ihr Äußeres wieder hergestellt werden kann?«
»Ich hatte volles Vertrauen in den Chirurgen, den mein Mann für mich ausgewählt hat.«
Tate beugte sich zum Mikrofon vor, damit man ihn hören konnte. »Sie können sich sicher vorstellen, daß Carole jetzt gern nach Hause möchte. Bitte entschuldigen Sie uns.«
Er drängte sie, weiterzugehen, aber die Menge bedrängte sie. »Mr. Rutledge, wird Ihre Frau Sie auf ihren Wahlkampfreisen begleiten?« Ein besonders aufdringlicher Reporter stellte sich direkt vor sie und schob Tate sein Mikrofon vors Gesicht.
»Bei einigen Fahrten wird Carole dabei sein. Aber vermutlich zieht sie es vor, zu Hause bei unserer Tochter zu bleiben.«
»Wie geht es Ihrer Tochter, Mr. Rutledge?«
»Es geht ihr gut, danke. Wenn wir jetzt bitte –«
»Was meint Ihre Tochter zu den leichten Veränderungen in Ihrem Aussehen, Mrs. Rutledge?«
»Keine Fragen mehr, bitte.«
Eddy bahnte ihnen einen Weg durch die Menge, aber sie kamen nur langsam voran. Die Leute waren ihnen eigentlich wohlgesinnt, trotzdem fühlte sich Avery eingeengt.
Bis jetzt war sie immer auf der anderen Seite gewesen, eine Reporterin, die jemandem, der in einer persönlichen Krise war, ein Mikrofon entgegengehalten hatte. Die Aufgabe eines Reporters war es, an eine Story zu kommen, eine Aussage aufzunehmen, die kein anderer aufgezeichnet hat. Man dachte kaum je daran, wie es wohl sein mochte, wenn man Opfer dieses Ansturmes war. Dieser Aspekt ihrer Arbeit hatte ihr noch nie gefallen. Ihren schwerwiegenden Fehler hatte sie nicht gemacht, weil sie zu wenig Empfindsamkeit besessen hatte, sondern zuviel.
Aus dem Augenwinkel sah sie das KTEX-Zeichen an der Seite einer Videokamera. Instinktiv drehte sie ihren Kopf in diese Richtung. Es war Van!
Für einen kleinen Augenblick vergaß sie, daß sie ihn eigentlich nicht kennen durfte. Beinahe hätte sie sogar seinen Namen gerufen und ihm zugewinkt. Sein bleiches, schmales Gesicht und sein dünner Pferdeschwanz sahen so wunderbar vertraut aus! Sie hätte sich ihm am liebsten an die knochige Brust geworfen und ihn fest gedrückt.
Gott sei Dank blieb ihr Gesicht ausdruckslos. Sie wandte sich wieder ab, ohne eine Regung zu zeigen. Tate drängte sie in die Limousine. Als sie dann auf dem Rücksitz saß und von dem gefärbten Glas verdeckt wurde, spähte sie aus dem Rückfenster. Van schob sich durch die Menge, sein Auge fest an den Sucher der Kamera gepreßt.
Ja, sie vermißte den verqualmten Redaktionsraum mit den rappelnden Telefonen, den quäkenden Polizeifunklautsprechern und ratternden Fernschreibern.
Als sich der Wagen von dem Haus entfernte, in dem sie sich wochenlang aufgehalten hatte, spürte sie plötzlich ein überwältigendes Heimweh nach Avery Daniels Leben. Wer trug jetzt ihre Kleider, schlief in ihrer Bettwäsche und trocknete sich mit ihren Handtüchern ab? Plötzlich fühlte sie sich, als hätte man sie ausgezogen und vergewaltigt. Aber sie selbst hatte die unwiderrufliche
Entscheidung getroffen, daß Avery Daniels tot bleiben mußte. Nicht nur ihre berufliche, sondern auch ihre persönliche Existenz und die von Tate standen jetzt auf dem Spiel.
Tate setzte sich bequemer neben sie. Sein Bein streifte ihres. Sein Ellenbogen berührte ihre Brust. Seine Hüfte befand sich sicher neben der ihren.
Im Augenblick war sie genau dort, wo sie sein wollte.
Eddy, der vor ihr auf dem Klappsitz saß, klopfte ihr beruhigend das Knie. »Du hast dich gut
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