Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Steineiche warf ihren Schatten auf die ganze Vorderseite des Hauses, und graues Moos hing von ihren Zweigen herab. Eine scharlachrote Fülle von Geranien stand in Terracottatöpfen auf beiden Seiten der Haustür, zu der Tate Avery führte, nachdem sie aus dem Wagen gestiegen waren.
Das war Texas, wie es leibte und lebte, und plötzlich spürte Avery, daß es ihr Zuhause war.
KAPITEL 15
Das ganze Haus war stilvoll möbliert. Alle Zimmer waren geräumig, mit hohen, von Balken gestützten Decken und breiten Fenstern. Zee hatte ihrer Familie ein schönes Heim bereitet.
Das Mittagessen wartete auf der Veranda auf sie. Sie aßen an einem großen Gartentisch, unter einem leuchtendgelben Sonnenschirm. Nachdem Avery von Nelson und Zee zur Begrüßung umarmt worden war, ging sie zu Mandy und kniete sich vor sie.
»Hallo, Mandy. Ich bin so froh, daß ich dich endlich wiedersehe.«
Mandy starrte auf den Boden. »Ich war ganz brav.«
»Ja, natürlich. Daddy hat mir das immer wieder erzählt. Und du siehst so hübsch aus heute.« Sie strich mit der Hand über Mandys glänzendes Haar. »Deine Haare wachsen schon wieder kräftig, und dein Gips ist ja auch weg.«
»Kriege ich jetzt mein Mittagessen? Großmutter hat gesagt, daß wir essen, wenn ihr ankommt.«
Ihre apathische Art brach Avery das Herz. Sie hätte ihrer Mutter eigentlich lauter aufregende Dinge erzählen müssen nach einer so langen Trennung.
»Holen Sie Carole etwas Eistee, Mona«, sagte Nelson, wobei Avery auch gleich den Namen der Haushälterin erfuhr, die das Essen brachte. »Und vergessen Sie den Zucker nicht.«
Die Familie versorgte sie, ohne es zu bemerken, mit zahllosen Hinweisen. Sie erfuhr Stück für Stück von Caroles Angewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen. Sie blieb auch ständig wachsam in bezug auf Dinge, durch die sie sich verraten könnte.
Als sie sich gerade insgeheim gratulierte, wie gut ihr das gelang, lief ein großer, zottiger Hund über den Rasen. Er kam bis auf eine kurze Entfernung heran, bis er bemerkte, daß Avery eine Fremde war. Er blieb starr und unbeweglich stehen, dann setzte er sich und knurrte.
Ein Hund — das Haustier! Warum hatte sie nicht daran gedacht? Statt darauf zu warten, daß die anderen reagierten, ergriff sie die Initiative.
»Was ist los mit ihm? Habe ich mich so verändert? Erkennt er mich nicht?«
Tate hob ein Bein über die Bank, auf der er saß, und klopfte sich auf den Oberschenkel. »Komm her, Shep, und hör auf zu knurren.«
Mit einem wachsamen Blick in Richtung Avery schlich der Hund zum Tisch und legte sein Kinn auf Tates Schenkel. Tate kraulte ihn hinter den Ohren. Vorsichtig streckte Avery die Hand aus. »Hallo, Shep, ich bin’s.«
Er schnupperte mißtrauisch an ihrer Hand. Als er schließlich zufrieden feststellte, daß sie keine Gefahr bedeutete, leckte er einmal warm und feucht über ihre Handfläche. »So ist es gut.« Sie lachte und sah zu Tate auf, der sie verwunderte betrachtete.
»Seit wann hast du Interesse daran, dich mit meinem Hund anzufreunden?«
Avery sah sich hilflos um. Nelson und Zee wirkten ebenfalls verblüfft. »Seit... seit ich beinah gestorben wäre. Ich denke, ich fühle mich jetzt allen Lebewesen mehr verbunden.«
Die unbehagliche Stimmung verging, und das Mittagessen verstrich ohne weitere Zwischenfälle. Danach wäre Avery gern in ihr Zimmer und ins Bad gegangen, aber sie wußte nicht, wo ihr Zimmer war.
»Tate«, fragte sie, »sind meine Sachen schon im Haus?«
»Ich glaube, nicht. Warum, brauchst du sie?«
»Ja, bitte.«
Während Mandy bei ihren Großeltern blieb, folgte Avery ihm zum Auto, das immer noch vor dem Haus stand. Sie trug die kleinere Tasche, er die größere.
»Ich kann auch beide nehmen«, sagte er über seine Schulter, als er wieder ins Haus ging.
»Kein Problem.« Sie ging etwas langsamer, um sich den Weg zeigen zu lassen. Eine breite, zweiflügelige Tür führte in einen langen Flur. Auf der einen Seite befanden sich eine Reihe von Fenstern, die zum Hof hinausführten, auf der anderen Seite waren mehrere Zimmer angeordnet. Tate betrat eines von ihnen und stellte ihren Koffer vor eine Tür mit Lüftungsschlitzen.
»Mona kann dir beim Auspacken helfen.«
Avery nickte, war aber im Geiste mit dem Zimmer beschäftigt. Es war groß und hell und mit einem safranfarbenen Teppich und hellen Holzmöbeln eingerichtet. Die Tagesdecke auf dem Bett und die Vorhänge waren mit Blumenmuster bedruckt. Das Ganze war etwas zu blumig für Averys Geschmack,
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