Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
Woche. Und sie war fast froh darüber.
Auch wenn seine Abneigung nicht ihr galt, trug sie doch das Los ihrer Vorgängerin. Und die Distanz machte es leichter erträglich.
Bis die Wahrheit ans Licht kam, wollte sie wenigstens versuchen zu zeigen, wie wenig egoistisch ihre Beweggründe waren. Früh am Montagmorgen ließ sie sich einen Termin bei Dr. Gerald Webster, dem berühmten Kinderpsychologen aus Houston, geben. Er war ausgebucht, aber sie ließ sich nicht abweisen. Und sie setzte Tates augenblickliche Popularität ein, um eine Stunde der wertvollen Zeit des Doktors für Mandy zu reservieren.
Als sie Tate von dem Termin berichtete, nickte er kurz. »Ich werd’s mir in meinem Terminkalender notieren.« Sie hatte den Termin so gelegt, daß er auf einen Tag fiel, an dem sie ohnehin in Houston sein würden.
Ansonsten sprachen sie kaum miteinander. Dadurch hatte sie mehr Zeit, sich zu überlegen, was sie sagen würde, wenn sie Irish gegenüberstand.
Doch als sie dann am Mittwochabend ihr Auto vor seinem bescheidenen Haus parkte, hatte sie nach wie vor keine Ahnung, wie sie die Sache angehen sollte.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zu seiner Haustür ging, besonders als sie eine Bewegung am Fenster sah. Noch bevor sie die Tür erreichte hatte, wurde sie aufgerissen. Irish, der aussah, als wäre er bereit, sie von Kopf bis Fuß in kleine Stücke zu reißen, kam heraus und fragte fordernd: »Wer, zum Teufel, sind Sie, und was spielen Sie für ein Spiel?«
Avery ließ sich von seinem wilden Ton nicht einschüchtern. Sie ging weiter, bis sie ihn erreicht hatte. Er war nur eine Spur größer als sie. Da sie Schuhe mit hohen Absätzen trug, standen sie sich Auge in Auge gegenüber.
»Ich bin’s, Irish.« Sie lächelte zärtlich. »Laß uns ins Haus gehen.«
Als ihre Hand seinen Arm berührte, verflog seine Wut. In wenigen Sekunden verwandelte er sich in einen verwirrten alten Mann. Die eisige Abwehrhaltung in seinen blauen Augen wich plötzlich einem Tränenschleier, und Zweifel, Kummer und Freude wurden sichtbar.
»Avery? Ist das...? Wie...? Avery?«
»Ich erzähle dir drinnen alles.«
Sie faßte ihn am Arm und drehte ihn um, weil er plötzlich zu vergessen haben schien, wie er seine Arme und Beine zu verwenden hatte. Sie schloß die Tür hinter ihnen.
Sie stellte bekümmert fest, daß das Haus genauso heruntergekommen wirkte wie Irish, dessen Erscheinung sie schockiert hatte. Er hatte um den Bauch herum zugenommen, seine Wangen und sein Kinn waren aufgeschwemmt. Die roten Äderchen auf seiner Nase und um seine Wangen herum sprachen Bände. Er hatte in letzter Zeit sehr viel getrunken.
Er war nie sehr auf modische oder besonders ordentliche Kleidung versessen gewesen, aber jetzt sah er regelrecht verlottert aus. Es zeigte, daß sein Charakter ebenfalls einen gewissen Verfall erlitten hatte. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war sein Haar noch graumeliert gewesen. Jetzt war es fast völlig weiß.
»O Irish, bitte verzeih mir.« Mit einem Schluchzen legte sie ihre Arme um ihn und drückte seine massige Gestalt an sich.
»Dein Gesicht ist anders. Und deine Stimme ist rauh.«
»Ich weiß.«
»Aber ich hab’ dich an deinen Augen erkannt.«
»Das ist schön. Mein Inneres hat sich nicht geändert.«
»Du siehst gut aus. Wie geht es dir?« Er schob sie ein Stück von sich, und seine großen, rauhen Hände rieben ungeschickt über ihre Arme.
»Mir geht’s prima. Ich bin wieder geheilt.«
»Wo warst du? Heilige Muttergottes, ich kann’s nicht glauben.«
»Ich auch nicht. Mein Gott, ich bin so froh, dich zu sehen.«
Sie fielen sich wieder in die Arme und weinten gemeinsam. Wenigstens tausend Mal in ihrem Leben war sie schon zu Irish gegangen, um sich von ihm trösten zu lassen. Wenn ihr Vater nicht da war, hatte er aufgeschlagene Knie gesundgepustet, zerbrochenes Spielzeug repariert, Zeugnisse gelesen, Tanzveranstaltungen besucht, sie bestraft, ihr Glück gewünscht, sie bedauert.
Dieses Mal fühlte sich Avery als die Überlegene. Er klammerte sich fest an sie und brauchte Trost.
Irgendwie kamen sie bis zu seinem Sofa. Als die Tränen versiegten, wischte er sich kurz und ungeduldig das nasse Gesicht mit den Händen ab. Er schämte sich plötzlich.
»Ich dachte, du würdest dich vielleicht ärgern«, sagte sie und putzte sich wenig damenhaft laut die Nase.
»Das tue ich auch, maßlos. Wenn ich mich nicht so freuen würde, dich wiederzusehen, dann würde ich dir den Hinten
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