Trügerischer Spiegel: Roman (German Edition)
dabei für eine andere hält?«
Auf den Gedanken war sie noch nicht gekommen. Sie runzelte die Stirn. »Ich würde wollen, daß er weiß, wen er vor sich hat. Es ist wirklich nicht richtig, daß ich ihm etwas vormache, aber...««
Ihre Stimme verstummte, während sie mit der Frage rang, für sie sie bis jetzt noch keine Antwort gefunden hatte. Dann ließ sie sie wieder unbeantwortet und sagte: »Und dann ist da noch Mandy. Ich liebe sie auch, Irish. Sie braucht unbedingt eine Mutter, die sich um sie kümmert.«
»Da gebe ich dir recht. Und was wird aus ihr werden, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast und sie verläßt?«
»Ich werde sie nicht einfach verlassen –«
»Und was meinst du, wie Rutledge sich fühlen wird, wenn du einen Artikel über seine Familie schreiben willst?«
»Es wird keinen Artikel geben.«
»Ich möchte auf jeden Fall nicht dabei sein, wenn du ihm alles erklärst. Er wird glauben, daß du ihn nur benutzt hast.« Er machte eine Pause, um noch deutlicher zu werden. »Und er hätte recht, Avery.«
»Nicht wenn ich ihm dabei das Leben rette. Meinst du nicht, daß er mir vielleicht auch vergeben kann?«
Er fluchte leise. »Du hast den falschen Beruf gewählt. Du hättest Rechtsanwältin werden sollen. Du würdest sogar mit dem Teufel um Vorteile schachern.«
»Ich kann meine Karriere nicht in Schande beenden, Irish. Ich muß den Fehler von Washington wiedergutmachen und meine Glaubwürdigkeit als Journalistin zurückgewinnen.« Ihre Augen sahen ihn um Verständnis heischend an. »Ich habe mir diese goldene Gelegenheit nicht freiwillig ausgesucht. Sie wurde mir aufgezwungen. Und jetzt muß ich das Beste daraus machen.«
»Aber du fängst es falsch an«, sagte er sanft und hob ihr Kinn mit seinem Zeigefinger an. »Deine Gefühle sind zu sehr mitbeteiligt, Avery. Du hast zuviel Herz, um unbeteiligt zu bleiben. Du hast selbst zugegeben, daß du diese Leute gern hast, ja sogar liebst.««
»Um so mehr Grund für mich, zu bleiben. Jemand will Tate töten und Mandy zur Waise machen. Wenn es in meiner Macht steht, muß ich verhindern, daß das passiert.«
Sein Schweigen war gleichbedeutend mit dem Schwenken einer weißen Fahne, er gab auf. Sie sah auf die Uhr an der Wand. »Ich muß gehen. Aber vorher noch eine Frage: Hast du etwas, das mir gehört?«
Weniger als eine Minute später zog sie sich die goldene Kette ihres Medaillons über den Kopf. Es war nicht sehr wertvoll, aber es war ihr kostbarster Besitz.
Ihr Vater hatte es ihr 1967 aus Ägypten mitgebracht, als er für Newsweek den Konflikt zwischen diesem Land und Israel dokumentiert hatte.
Avery drückte die Feder hinunter, und die beiden runden Hälften teilten sich. Sie betrachtete die Fotos darin. Eines war das ihres Vaters. Er trug darauf Kampfkleidung und eine 35-mm-Kamera um den Hals. Das andere Foto war ein Bild von ihrer Mutter. Rosemary, zart und schön, lächelte traurig in die Kamera.
Heiße Tränen brannten in Averys Augen. Sie schloß das Medaillon und drückte es in ihre Handfläche. Nicht alles war ihr genommen worden. Sie hatte immer noch dies hier. Und sie hatte Irish.
»Ich hatte gehofft, daß du es hast«, sagte sie.
»Es lag in den Händen der toten Frau.«
Avery nickte, und es fiel ihr schwer, etwas zu sagen. »Mandy hatte es entdeckt. Ich gab es ihr, damit sie es sich genauer anschauen kann. Kurz vor dem Start ärgerte sich Carole, weil Mandy mit der Kette spielte.
Sie nahm sie ihr weg. Das ist das letzte, woran ich mich noch erinnern kann.«
Er zeigte ihr Caroles Schmuck. »Ich war ganz schön betroffen, als ich das Päckchen aufgemacht habe, das du mir geschickt hast. Du hast es doch geschickt, oder?«
Sie erklärte ihm, wie es dazu gekommen war. »Ich wußte nicht, was ich sonst damit tun sollte. Aber ich denke, insgeheim wollte ich Kontakt zu dir aufnehmen.«
»Willst du ihren Schmuck?«
Sie schüttelte den Kopf und betrachtete den einfachen Goldreif an ihrem linken Ringfinger. »Wenn er plötzlich wiederauftauchen würde, müßte ich das erklären. Ich muß die Dinge so einfach wie möglich gestalten.«
Er fluchte ungeduldig. »Avery, bitte, laß es bleiben. Gib auf— heute abend noch.«
»Ich kann nicht.«
»Hölle und Verdammnis«, fluchte er. »Du hast den Ehrgeiz deines Vaters und das Mitgefühl deiner Mutter. Das ist eine lebensgefährliche Kombination.«
Avery wußte, daß er kapituliert hatte, als er sie voller Bedauern fragte: »Was soll ich tun?«
Tate stand im Flur, als sie
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