Trügerisches Spiel (German Edition)
schwerfällt, etwas von Fremden anzunehmen, aber du kannst nicht wochenlang in diesem … Umstandskleid herumlaufen. Darin fällst du mehr auf als in normaler Kleidung, die dir passt. Bei der Größe musste ich ein wenig raten, aber ich hoffe, es sitzt alles. Falls nicht, tausche ich es einfach beim nächsten Stadtbesuch um.«
Jocelyns Kehle zog sich bei so viel Großzügigkeit zusammen. Die Hunters hatten sie nicht nur in ihr Haus aufgenommen, sondern versuchten auch noch, ihr die Situation so angenehm wie möglich zu machen. »Vielen Dank, für alles. Ich werde versuchen, euch für alles zu entschädigen, sobald ich wieder …« Sie stockte.
Angela lächelte freundlich. »Wir können uns ein wenig Essen und Kleidung gerade noch leisten. Und ich freue mich über die weibliche Gesellschaft.«
Jocelyn beschloss, die Erklärung zu akzeptieren und die Fürsorge einfach zu genießen. Als Angela den Raum verließ, wandte Jocelyn sich wieder dem Bett und der darauf ausgebreiteten Kleidung zu. Mit zitternden Fingern strich sie über die Jeans und T-Shirts. Nachdem sie ihre Sachen in Mitchell hatte zurücklassen müssen, fühlte es sich merkwürdig an, wieder Kleidung zu besitzen.
Mit dem Schwur, Angela alles zurückzuzahlen, sowie sie nicht mehr auf der Flucht war, riss Jocelyn sich das elende Kleid über den Kopf und warf es auf den Boden. Am liebsten hätte sie es verbrannt, aber sie wusste nicht, ob sie es vielleicht noch brauchen würde. Angela hatte sogar an Unterwäsche gedacht, und Jocelyn war dankbar, dass es die praktischen Varianten waren und keine spitzenbesetzten Dessous. Nach einem Blick auf die Größe zog Jocelyn rasch einen schwarzen Slip und einen gleichfarbigen Sport-BH an. Beide passten perfekt. Wahrscheinlich hatte Jays Mutter im Laufe ihres Lebens viel Erfahrung darin gesammelt, passende Kleidung herauszusuchen.
Die Jeans war um die Hüfte etwas weit, aber mit einem Gürtel war das kein Problem. Auch das schwarze T-Shirt saß gut. Mit einem schlechten Gewissen öffnete Jocelyn die Schranktüren auf der Suche nach einem Spiegel. Hinter der zweiten wurde sie fündig. Der Spiegel füllte die gesamte Rückseite der Tür aus. Leider enthüllte er auch, wie furchtbar sie trotz der neuen Kleidung aussah. Ihre dünnen Arme ragten wie Stöcke aus den Ärmeln, ihr Gesicht wirkte durch das dunkle T-Shirt und die mausbraune Haarfarbe noch bleicher, die Augenringe noch tiefer. Kein Wunder, dass Jay und seine Eltern sie als Wohltätigkeitsfall betrachteten. Jocelyn verzog den Mund. Nein, das war ungerecht. Sowohl Jay als auch Angela waren absolut liebenswürdig gewesen und hatten ihr nie das Gefühl gegeben, als würde sie um Hilfe betteln. Auch wenn sie Hilfe wirklich dringend brauchte.
Da sie ihr Spiegelbild nicht mehr ansehen mochte, wandte Jocelyn sich wieder zum Bett um. Dort lag neben einem weiteren T-Shirt und Bermudashorts ein farbenfrohes Sommerkleid – figurbetont und mit schmalen Trägern. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann sie zuletzt so etwas getragen hatte. Mit den Fingerspitzen strich sie über den weichen Stoff und stellte sich vor, wie es wäre, sich wieder so wohl in ihrer Haut zu fühlen, dass sie so ein Kleid anzog.
»Ich hoffe, die Sachen gefallen dir.« Angelas Stimme erklang hinter ihr und sie zuckte erschrocken zusammen.
Beinahe schuldbewusst richtete sie sich rasch auf. »Ja, danke, sie sind sehr schön.«
»Hattest du das Kleid schon an?«
»Nein, noch nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich noch nicht … hineinpasse.«
Falten erschienen auf Angelas Stirn. »Ist es die falsche Größe?«
Stumm schüttelte Jocelyn den Kopf. Wie sollte sie etwas erklären, das auf einem Gefühl beruhte? »Es ist nicht … ich. Oder andersherum, momentan passe ich noch nicht zu so einem schönen Kleid.« Hitze stieg in ihre Wangen, und sie wandte das Gesicht ab.
Angela trat neben sie und nahm sie in die Arme. »Du wirst viel zu schön für das Kleid sein, wenn ich erst mit dir fertig bin.«
Das Auflachen schmerzte in ihrer zusammengeschnürten Kehle. Mit aller Mühe zwang Jocelyn die Tränen zurück. Sie wollte keine Heulsuse sein, wenn alle so nett zu ihr waren! Warum fühlte sie sich jetzt so schwach, nachdem sie endlich in Sicherheit und von liebenswürdigen Menschen umgeben war? Vor allem wegen etwas so Nebensächlichem wie Kleidung oder ihrem Aussehen. Es war nur wichtig, dass sie überlebte. Wie sie dabei aussah, war völlig egal. Schließlich hatte sie sich
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