Trugschluss
neuerdings beschlich ihn immer stärker das Gefühl, diese
Frau wende sich langsam von ihm ab. Er konnte es nicht begründen, aber rein
emotional war etwas anders geworden. Okay, das versuchte er sich dann
einzureden, im Laufe der Zeit hatte auch sie beide der Alltag überwältigt, war
vieles nicht mehr so, wie in den ersten Monaten. Doch die Abende, an denen
Claudia »etwas erledigen« musste oder mit »Freundinnen von früher« unterwegs
war, häuften sich. Und nun hatte ihm Claudia heute Morgen sogar angekündigt,
dass sie Weihnachten bei ihren Eltern und Geschwistern in Berlin verbringen
wollte. Einen kurzen Augenblick lang hatte er ihr vorschlagen wollen, einfach
mitzugehen – doch nachdem diese Anregung nicht von ihr kam, verwarf er diese
Idee wieder. Die drei letzten Weihnachten hatten sie gemeinsam verbracht,
einmal am Lago Maggiore drüben, zweimal an der Riviera. Nun überlegte er sich,
ob er zu seinen Eltern auf die Schwäbische Alb fahren sollte. Zeit genug dafür
würde bleiben. Die Arbeit bei Armstrong sollte über Weihnachten wieder drei
Wochen lang eingestellt werden.
Joe war Ende Oktober in die Staaten
geflogen und blieb nun wohl länger dort, als ursprünglich vorgesehen. Darüber
war Anja traurig, die jedoch auch von Zweifeln geplagt schien, weil ihr niemand
eine konkrete Antwort auf ihre bohrenden Fragen nach dem eigentlichen Sinn der
Mannschaft um Armstrong geben wollte.
Jens beschloss, die junge Frau am Abend
auf dem Handy anzurufen. Heute hatte er frei und war in sein eigenes
Appartement gegangen, nachdem Claudia erklärt hatte, sie wolle allein einkaufen
gehen – drüben am Lago Maggiore, in Loccarno. Sie kam an solchen Tagen meist
erst spät in der Nacht zurück.
Der junge Mann blickte aus dem Fenster
über die Dächer der Häuser hinweg – hinüber zum San Salvatore, dessen Spitze
von tiefhängenden Wolken eingenebelt war. Ein trister Novembertag. Vereinzelt
brannten Lichterketten.
Auch in Ulm, wo das Klima an solchen Tagen feucht und neblig ist,
hingen die Wolken tief. Die Fußgängerzonen waren weihnachtlich geschmückt, auch
hier strahlten Lichterketten. Menschenmassen schoben sich an diesem Samstag vor
dem ersten Advent durch die Kaufhäuser. Michael Braunstein und Manuela
Lilienthal waren in dem markanten Hochhaus des Maritims abgestiegen, das
außerhalb des Zentrums direkt an der Donau in den tristen Novemberhimmel ragte.
Die junge Frau saß in einem der ledernen
Sessel der Bar und schlug die Beine übereinander. Ihr Begleiter, wie immer in
solcher Atmosphäre dezent vornehm gekleidet, hatte seinen Sessel näher zu der
Frau herangezogen. Sie tranken einen erfrischenden Cocktail, auch wenn dieser
nicht zu der Wetterlage passen mochte. Seit sie in Ulm angekommen waren, hatten
sie ständig gefroren. »Zum Wohle – auf die Pyramiden«, lächelte Manuela. Auch
Braunstein hob das Glas. Nachdem sie getrunken hatten, meinte er: »Um ehrlich
zu sein, mir klingt das alles viel zu …« er suchte nach Worten, »viel zu
dubios, zu weit hergeholt, um es vorsichtig auszudrücken.«
Manuela zuckte mit den Schultern. »Zumindest
aufregend und spannend ist’s.«
»Ich hab vor dem Abflug nochmals gefragt«,
erklärte Braunstein, »die sind sich wohl selbst nicht im Klaren, was sie dazu
sagen sollen. Du erinnerst dich: Voriges Jahr waren sie ganz aufgeregt und
haben so getan, als ob sie dem allerletzten Geheimnis der Cheopspyramide auf
die Spur gekommen seien – und im Juli in Münsingen haben sie abgewiegelt,
erinnerst du dich?«
»Sind Araber«, meinte die junge Frau, »manches
werden wir mit unserer abendländischen Logik nie ergründen …«
Er nickte schweigend. Schließlich sagte
er: »Wie so vieles, Manuela, wie so vieles.«
»Ich glaube, eines der Probleme der
Menschheit besteht darin, dass wir dazu neigen, an Dingen
herumzuexperimentieren, deren Tragweite uns nicht bewusst ist«, erwiderte sie
und bekam ein nachdenkliches und ernstes Gesicht.
»Exakt«, sagte er, »mit immer
gefährlicheren Folgen. Irgendwann werden wir die Geister, die wir riefen, nicht
mehr los.«
»Wir haben schon einige gerufen«, meinte
Manuela, »und sie sitzen bereits mitten unter uns. Die Gen-Technik, Michael,
sie macht mir mehr Angst als alles andere. Da werden angebliche
Freiland-Versuche gemacht. Versuche! Weißt du, was das bedeutet? Versuche im
Freien! Dass der Wind genmanipuliertes Material überallhin verweht. Und nie
mehr, niemals wieder«, sie wiederholte dies nachdrücklich, »nie mehr ist
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