TS 82: Geheimagentin der Erde
Arme, sie wurde auf die Füße gestellt. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie überließ sich erschöpft dem fliegenden Ungetüm und seiner ungeheuren Kraft. Es hob sich mit ihr in die Luft – ihr vergingen wieder die Sinne.
Sie kam aber gleich wieder zu sich. Sie lag nun vor dem Eingang einer Höhle auf dem Rücken. Sie nahm allen Lebenswillen zusammen und kroch hinein.
Das große Tier folgte ihr. Es schnüffelte, und es fing an, sie anzuhauchen, als wollte es ihr mit seinem Atem Wärme bringen.
Drinnen fand sie eine Art von Nest aus alten Lumpen und Zeugfetzen. Sie brach erschöpft darauf zusammen, und sie erwartete, daß das Tier sie nun angreifen würde. Sie hatte nichts mehr, womit sie sich verteidigen konnte.
Aber es kam ganz anders. Mit seiner schnabelförmigen Schnauz begann das Tier, das Nestmaterial um sie herum aufzuhäufen, bis sie darin lag wie in einer Wiege. Es roch alles penetrant nach dem Tier, aber ihr wurde warm. Sie hockte immer noch da, und nun breitete das Tier eine seiner riesigen Schwingen aus und drückte sie mit unwiderstehlicher Gewalt auf das Lager.
Sie versuchte noch, sich zu wehren, aber mit der Wärme kam eine so ungeheure Müdigkeit über sie, daß sie plötzlich erlosch wie eine Kerzenflamme in der Zugluft.
Erst viel später kam sie zu sich – sie wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. In der Höhle, am Eingang, stand ein junger Mann. Sein Gesicht war blau vor Kälte, und er starrte sie staunend an.
*
Im ersten Moment hatte Saikmar gedacht, das Mädchen sei tot, und das Parradil habe es ihm nur gezeigt, um ihm zu beweisen, daß es mit Fressen versorgt sei. Sie sah so tot aus in ihrem merkwürdigen Anzug mit einem Helm und dicken Gurten.
Aber sie war nicht tot! Sie schlug die Augen auf, und er hörte sie sprechen. Sie richtete sich auf und schlug den Helm zurück. Sie sagte etwas in einer fremden Sprache.
Ihre Stimme war tief und rauh, aber nicht unangenehm. Plötzlich sprach sie ihn im wohlbekannten Dialekt von Carrig an.
„Wer sind Sie? Was ist das für ein Tier, das mich hierhergebracht hat?“
Saikmar starrte noch auf den seltsamen Helm, den sie jetzt von ihrer übrigen Ausrüstung löste und wie eine Glocke neben sich auf den Boden stellte. Er sagte:
„Ich bin Saikmar, Corries Sohn aus dem Stamme Twywit in Carrig, und lebe im Heiligtum hier in der Nähe. Dieses Wesen ist ein vornehmes Tier, ein Parradil.“
Sie nickte. Das Parradil stand nahe am Eingang und schnaufte, es sah sie aufmerksam an.
„Und Sie?“ fragte Saikmar.
Das Mädchen schüttelte hilflos den Kopf: „Ich … ich …“
„Was ist Ihnen geschehen? Wie sind Sie hierhergekommen?“
„Ich – weiß nicht. Ich war ohnmächtig.“
Saikmar sah sie wie ein Wunder an. Er dachte: Wenn das Parradil wenigstens reden könnte! Es wußte bestimmt mehr. Es hatte sie doch offenbar in freundlicher Absicht hergebracht, denn ein einziger Stoß mit den gepanzerten Sporen seiner Klauen hätte ja genügt, um das Mädchen zu töten.
Hatte es sie aus dem Schneesturm gerettet? Aber wie kam sie überhaupt hierher? Warum war sie so fremdartig angezogen? Oder hatte das Parradil sie von ganz weither aus dem Süden mitgebracht, wo es nach Nestmaterial suchte? So etwas war noch niemals beobachtet worden. Man hatte schon einmal gehört, daß Parradile Kinder raubten – aber so etwas?
Saikmar erinnerte sich daran, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Es wurde dunkel, und der Wintersturm jaulte.
„Ich muß Sie zum Heiligtum mitnehmen, damit Sie Unterkunft und Verpflegung finden. Können Sie gehen?“
Sie stand langsam auf. Sie mußte sich vorsehen, mit dem Kopf nicht an die Decke zu stoßen. Sie sagte schwach:
„Mir geht es nicht gut. Müssen wir weit laufen? Ist immer noch der Sturm draußen?“
Sofort waren Saikmars ritterliche Gefühle angesprochen. Er sagte:
„Es ist gar nicht so schlimm. Der Sturm hat schon nachgelassen. Aber es wird gleich dunkel. Wir müssen uns beeilen.“
Vorsichtig kroch Maddalena aus dem Nest des Parradils und blickte vom Eingang in den Frühwinterabend hinaus. Sie deutete auf eine blitzende Kuppel in einiger Entfernung:
„Müssen wir dahin?“
„Ja“, sagte Saikmar. „Es ist kein leichter Weg, aber hier können Sie nicht bleiben. Morgen wird die Schneemauer um das Heiligtum geschlossen und für den ganzen Winter versiegelt. Dann kann niemand hinein oder hinaus. Auf dem Felsweg hier können wir nicht zu zweien gehen. Sie müssen mir folgen und sich an mir
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