TTB 100: Der Traum der Maschine
wieder schloß:
»Haben Sie Besuch – störe ich?«
»Nein.«
Grenelle hatte Besuch. Man sah niemanden, aber zwei rauchende Zigaretten und zwei Gläser zeigten, daß Grenelles Gast kein Mann war. Das Glas trug Lippenstiftspuren; auch der Zigarettenfilter. Nicholas blieb hinter einem Sessel stehen.
»Störe ich wirklich nicht?« fragte er. Grenelle nahm ihm den Umschlag ab und verstaute ihn wieder in der Schublade. Er wirkte sehr zerfahren und unruhig. Nicholas sagte es ihm, und der Bärtige fing an zu lachen.
»Sie machen Witze, ohne es zu ahnen«, sagte Grenelle und blickte Nicholas an.
»Wieso?« fragte Nicholas entgeistert. Er verstand nichts. Grenelle schüttete eine ziemlich beachtliche Portion teuren Whiskys in ein drittes Glas, warf zwei Eiswürfel hinein und verspritzte etwas von dem kostbaren Inhalt. Grenelles braune Hand schob das Glas über den niedrigen Tisch, Nicholas hob es an und erwiderte den Blick des Bärtigen. Langsam begann es in ihm zu dämmern; er konnte ahnen, weshalb Grenelle derart seltsam war.
»Sie haben es ziemlich gemütlich hier«, sagte Nicholas und lehnte sich behaglich zurück. »Sagen Sie – haben Sie die Dame auf dem Balkon versteckt?« fragte Nicholas weiter, »oder ist sie so alt, daß Sie sich vor mir schämen müssen?«
»Keineswegs«, sagte Grenelle in dem Versuch, der Situation etwas von ihrer Spannung zu nehmen.
»Ich weiß«, erklärte Nicholas und hob die Zigarettenschachtel auf, die neben dem Aschenbecher lag, »Claudine braucht immer so lange, um sich schön zu machen. Das sind ihre Zigaretten?«
Grenelle nickte.
»Ich hoffe«, flüsterte Nicholas und beugte sich vertraulich vor, »Sie werden recht glücklich miteinander – Claudine und Sie. Wie das Schicksal so spielt. Muß ich ausgerechnet heute abend das Manuskript zurückbringen!«
»Verdammt«, sagte Grenelle und zog an seiner Zigarette. »Das ist mir vielleicht peinlich!«
»Ich weiß«, sagte Nicholas und winkte milde ab. »Mir nicht. Aber ich werde den Gentleman zu Ende spielen. Leben Sie wohl – richten Sie Claudine einen recht herzlichen Gruß von Dr. Poul Roger aus. Sagen Sie, er hätte gesagt, ich sei normal!«
Nicholas wartete weder Gruß noch Verabschiedung ab und verließ die Wohnung. Auf der Treppe lehnte er sich an die Wand, zündete sich eine Zigarette an und lachte dann kurz auf.
Dann fuhr er zurück in sein Studio.
Nachdem er drei Zigaretten geraucht und den Rest seines Orangensaftes getrunken hatte, ging Nicholas zu Bett: Er tat dies das erste Mal seit der ersten Begegnung mit Grenelle ohne die Furcht, wieder einen Traum zu haben.
So war es. Und so blieb es einige Tage.
*
Die Tage, meist angefüllt mit mehr oder weniger sorglosen Gedanken, kleinen Fahrten in die Umgebung der Stadt oder dem Versuch, das Gesicht des Mädchens Beatrice auf Zeichenkarton zu bannen, vergingen ziemlich schnell. Plötzlich war Sonntag.
Nicholas hatte sich nach einem ziemlich guten und langen Mittagessen ausgestreckt und war eingeschlafen. Es war wieder warm im Studio; den ganzen Tag hatte die Sonne auf das Blech des Daches geschienen. Nicholas hatte die Binden von den Handgelenken entfernen können; nur noch rote, empfindliche Stellen zeigten an, wo sich die Blasen befunden hatten. Nicholas schlief und träumte. Aber – trotzdem schien er wach zu sein. Er bewegte sich in einer Zone, die nicht mehr Wachsein, aber auch nicht Schlaf war.
Nicholas schwitzte und warf sich herum, aber nirgends war Kühlung. Plötzlich entspannte er sich und begann zu spüren, wie es immer kühler wurde. Kühler ... stiller ... dunkler.
Wieder träumte Nicholas.
*
Die ersten Spuren des flüssigen Heliums fingen an, sich zu verflüchtigen. Langsam kletterte die Temperatur; sie bewegte sich tun Zehntelgrade die Quecksilbersäule aufwärts. Das scheinbar unentwirrbare Gitterwerk aus Röhren, Leitungen und Schaltstellen, das den länglichen Zylinder umschloß, knackte an verschiedenen Stellen. Bedeutend leiser und schneller zirpten die wenigen Schaltungen der paramechanischen Überwachungsanlage. Sie waren es, die den Beginn der ersten Phase eingeleitet hatten.
Sonst war kein Laut in der dunklen Reglosigkeit.
Die erste Phase dauerte genau sechzig Stunden.
Lebensvorgänge, seit langer Zeit eingefroren, kehrten zaghaft wieder in die eigentlichen Funktionen zurück. Zellwände wurden halbdurchlässig, die Flüssigkeiten nutzten das Konzentrationsgefälle aus und diffundierten zwischen den Zellen. Sie taten
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