Tür ins Dunkel
Tür ist!« Melanies kleine weiße Hände zuckten durch die Luft, so als versuchte sie, ein Bild von etwas zu zeichnen. »Was ist auf der anderen Seite der Tür?« wiederholte Laura geduldig. Die Hände bewegten sich weiter durch die Luft. Das Kind gab leise Laute von sich. »Sag es mir, Liebling.«
»Die Tür...«
»Wohin führt die Tür?«
»Die Tür...«
»Was für ein Raum ist auf der anderen Seite?«
»Die Tür... zum...«
»Wohin?«
»Die Tür... zum... Dezember«, brachte Melanie mühsam hervor. Ihre Angst wurde begleitet von anderen Gefühlen - Jammer, Verzweiflung, Einsamkeit, Frustration. All diese Emotionen brachen sich jetzt Bahn in den unartikulierten Lauten, die sie von sich gab, und in ihrem wilden Schluchzen. Dann: »Mami? Mami?«
»Ich bin hier, Baby, ich bin bei dir«, sagte Laura, erschüttert über die Tatsache, daß ihre Tochter nach ihr rief. »Mami?«
»Ich bin hier, Liebling. Komm zu mir. Komm aus deinem Versteck hervor.« Das Mädchen kam nicht unter dem Schreibtisch hervor. Weinend rief es wieder: »Mami?« Es schien zu glauben, allein zu sein, weit entfernt von Lauras schützender Umarmung, obwohl in Wirklichkeit nur wenige Zentimeter sie voneinander trennten.
»O Mami! Mami«
Während Laura in das Versteck unter dem Schreibtisch spähte und ihr kleines Mädchen weinen und wimmern sah, während sie die Kleine berührte und streichelte, war sie erfüllt von ähnlich heftigen Gefühlen wie Melanie, erfüllt von Schmerz, Mitleid und Zorn. Aber gleichzeitig war sie auch ungeheuer neugierig. Die Tür zum Dezember?
»Mama?«
»Hier bin ich. Hier!« Sie waren so nahe beisammen, und doch waren sie getrennt durch einen breiten geheimnisvollen Abgrund.
Luther Williams war ein junger schwarzer Pathologe, der für die Polizei von Los Angeles arbeitete. Er kleidete sich wie Sammy Davis, Jr. -teure Anzüge und zuviel Schmuck -, war aber so kultiviert und witzig wie Thomas Sowell, der schwarze Soziologe. Luther bewunderte Sowell und andere Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler der aufsteigenden konservativen Bewegung innerhalb der Kommunität intellektueller Schwarzer und konnte ganze Passagen aus ihren Büchern auswenig zitieren. Er liebte es, Dan Haldane lange Vorträge über pragmatische Politik zu halten und sich über die Vorzüge der freien Marktwirtschaft als einem Mittel gegen die Armut auszulassen. Er war aber ein hervorragender Pathologe mit feinem Gespür für die anomalen Einzelheiten, die für die Gerichtsmedizin so bedeutsam sind. Deshalb ließ Dan die ihm lästigen politischen Ausführungen meistens über sich ergehen, um anschließend alles Wissenswerte über sezierte Leichen zu erfahren. Luther saß über ein Mikroskop gebeugt und untersuchte eine Gewebeprobe, als Dan das grüngekachelte Labor betrat. Der Pathologe blickte grinsend auf.
»Hallo, Danny! Hast du die Karten benutzt, die ich dir gegeben habe?« Dan wußte im ersten Moment nicht, wovon die Rede war, doch dann fiel es ihm ein. Luther hatte zwei Karten für eine Debatte zwischen William F. Buckley und Robert Scheer gekauft, und dann war ihm etwas Wichtiges dazwischengekommen, und er hatte Dan die Karten aufgedrängt, als sie sich in der vergangenen Woche zufällig über den Weg gelaufen waren. »Diese Diskussion wird deinen geistigen Horizont erweitern«, hatte er versichert. Etwas schuldbewußt erklärte Dan jetzt: »Ich habe dir gleich gesagt, daß ich es wahrscheinlich nicht schaffen würde hinzugehen und daß du die Karten jemand anderem geben solltest.«
»Du warst nicht da?« fragte Luther enttäuscht. »Keine Zeit.«
»Danny, Danny, du mußt dir für solche Sachen einfach Zeit nehmen. In diesem Land tobt ein Kampf, der für unser aller Leben entscheidend sein wird, ein Kampf zwischen freiheitsliebenden Menschen und deren Gegnern, ein Krieg zwischen freiheitsliebenden Libertariern und freiheitshassenden Faschisten und Linksradikalen.«
Dan hatte sich seit zwölf Jahren an keinen Wahlen mehr beteiligt. Ihm war es ziemlich egal, welche Partei oder ideologische Richtung an der Macht war. Seine politische Indifferenz beruhte nicht auf der Überzeugung, daß sowohl die Demokraten als auch die Republikaner, sowohl die Liberalen als auch die Konservativen korrupt seien; vermutlich waren sie es, aber das war ihm ziemlich gleichgültig. Er glaubte einfach, daß die Gesellschaft sich irgendwie durchwursteln würde, ganz gleich, unter welcher Regierung, und er hatte keine Zeit, um sich langweilige
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