Tür ins Dunkel
Tränen vom Gesicht.
Earl nahm einzelne Teile des zerstörten Gerätes in die Hand und murmelte leise vor sich hin, verwirrt und fasziniert.
Laura setzte sich neben Melanie auf den Boden, nahm sie auf den Schoß, wiegte sie zärtlich in ihren Armen und war überglücklich, daß das Kind noch hier war, daß sie es trösten konnte. Sie hätte viel darum gegeben, die Ereignisse der letzten Minuten einfach vom Tisch wischen zu können. Aber sie war eine viel zu gute Psychologin, um sich zu gestatten, diese bizarren Geschehnisse zu verdrängen oder mit Hilfe psychologischer Fachausdrücke erklären zu wollen. Sie hatte keine Halluzination gehabt. Dieses Phänomen ließ sich nicht als Sinnestäuschung, als Einbildung bagatellisieren. Ihre Wahrnehmungen waren genau und verläßlich gewesen, obwohl sie Zeugin von etwas Unmöglichem gewesen war. Auch Earl hatte es gesenen. Es war verrückt, unmöglich -aber real! Das Radio war... besessen gewesen. Einige Bruchstücke rauchten noch. Es roch nach verschmortem Plastik. Melanie stöhnte leise. Zuckte zusammen. »Ruhig, Liebling, ganz ruhig.« Das Mädchen schaute seine Mutter an, und Laura war wie elektrisiert über den Blickkontakt. Melanie blickte nicht mehr durch sie hindurch. Sie war aus ihrer dunklen Welt aufgetaucht, und Laura betete, daß es diesmal für immer sein möge, obwohl das unwahrscheinlich war.
»Ich... will...«, sagte das Mädchen.
»Was, Liebling? Was willst du?«
Melanie suchte Lauras Blick. »Ich... brauche...«
»Alles, Melanie! Alles, was du willst. Sag es mir. Sag Mami, was du brauchst.«
»Es wird sie alle töten«, sagte Melanie mit angsterfüllter Stimme. Earl schaute von den rauchenden Trümmern des Radios auf und beobachtete sie intensiv. »Was?« fragte Laura. »Was wird sie töten, Liebling?«
»Und dann... wird es... mich... töten«, murmelte das Mädchen. »Nein«, widersprach Laura hastig. »Niemand wird dich töten. Ich werde dich beschützen. Ich werde...«
»Es... wird... kommen... von innen...«
»Woher von innen?«
».. .von innen...«
»Was ist es denn, Liebling? Wovor hast du Angst? Was ist es?«
»... es wird kommen... und mich... auffressen...«
»Nein!« , »...mich ganz und gar... auffressen«, flüsterte das Mädchen schaudernd.
»Nein, Melanie. Hab keine Angst. Du brauchst keine...« Sie verstummte, weil sie sah, daß die Augen des Kindes wieder glasig wurden. Melanie seufzte. Ihr Atem veränderte sich. Sie war in jene unzugängliche Welt zurückgekehrt, in der sie sich eingekapselt hatte, seit sie nackt auf der Straße aufgefunden worden war. »Können Sie sich einen Reim auf all das machen?« fragte Earl. »Nein.«
»Ich selbst bin nämlich völlig ratlos.«
»Ich auch.« Vorhin, beim Kochen, hatte sie fast schon optimistisch in die Zukunft geblickt, und die Situation war ihr fast normal vorgekommen. Aber jetzt war alles noch viel schlimmer geworden, und ihre Nerven waren wieder zum Zerreißen gespannt. Es gab Leute in dieser Stadt, die Melanie kidnappen wollten, um mit ihr weiterzuexperimentieren. Laura wußte nicht, zu welchen Zwecken, und sie wußte nicht, weshalb sie es ausgerechnet auf Melanie abgesehen hatten, aber sie war überzeugt davon, daß es diese Leute gab. Sogar das FBI schien das ja zu glauben. Es gab andere Leute, die Melanie tot sehen wollten. Die Entdeckung von Ned Rinks Leiche bewies, daß Melanies Leben in Gefahr war.
Aber nun sah es ganz danach aus, als seien jene gesichtslosen Feinde nicht die einzigen, die Melanie in ihre Gewalt bringen wollten. Es gab offenbar noch einen weiteren Feind. Das war der Inhalt der Warnung, die sie durch das Radio empfangen hatten.
Aber wer oder was hatte ihnen diese Warnung geschickt? Und wie? Und warum7. Und noch wichtiger: Wer war dieser neue Feind? Das Radio hatte von >Es< gesprochen, und Laura hatte den Eindruck gewonnen, als sei dieser Feind furchterregender und gefährlicher als alle anderen Gegner zusammen. >Es< war frei, hatte das Radio gesagt. >Es< kam. Sie sollten wegrennen, hatte das Radio gesagt. Sie sollten sich verstecken. Vor diesem >Es<.
»Mami? Mami?«
»Ich bin hier, mein Liebling.«
»Mamiiiiii!«
»Hier bin ich. Ich bin bei dir.«
»Ich... ich habe... ich habe... Angst«, murmelte Melanie, aber sie sprach nicht zu Laura oder Earl. Sie schien Lauras beruhigende Worte nicht gehört zu haben; sie sprach nur mit sich selbst, mit einer Stimme, die ihre grenzenlose Einsamkeit und Verlassenheit verriet. »Ich habe Angst... solche
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