Türkisgrüner Winter (German Edition)
überrumpelt. Bisher hatten wir immer eine gewisse Distanz zueinander gewahrt. Aber es war mir nicht unangenehm. Im Gegenteil, es fühlte sich gut an. Als er mich wieder losließ und mir erneut ein Lächeln schenkte, kam mir plötzlich ein Gedanke, der eine neue Sorge in mir weckte.
»Denkt Elyas auch so? Ich meine, denkt er auch, ich lasse ihn absichtlich leiden?«
»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Sebastian. »Er gibt sich selbst die Schuld an allem. Er denkt, er hätte dich nicht verdient.«
Schöne Worte konnten manchmal mehr wehtun als Draht, der sich ins Fleisch schnitt. Ich sah zu meinen Füßen.
»Und jetzt, wo ich schon mal hier bin«, fuhr er fort. »Überleg dir das doch noch mal mit heute Abend. Du würdest Alex sehr glücklich machen. Mehr als du dir vorstellen kannst.«
Ohne zu ihm aufzusehen, nickte ich.
»Elyas wird auch da sein«, sagte er. »Ich möchte dir nicht reinreden. Aber vielleicht ist heute Abend eine gute Gelegenheit, das alte Jahr hinter sich zu lassen und ein neues zu beginnen.«
Der Satz wog schwer wie Blei und ich spürte sein volles Gewicht auf den Schultern. Wieder nickte ich.
Zusammen gingen wir zurück an die Bar und Sebastian bezahlte seine Cola. »Wenn nicht bis heute Abend, dann hoffentlich trotzdem bis bald«, sagte er mit einem Zwinkern, ehe er sich umdrehte und das Purple Haze verließ.
Es war nicht leicht nach diesem Gespräch auch nur eine Sekunde mit den Gedanken bei der Arbeit zu bleiben. Die Kneipe füllte sich im Minutentakt und schon bald hätte ich fünf Arme gebraucht, um den ganzen Gästen noch gerecht werden zu können. Nachdem ich den gefühlt fünfhundertsten Cocktail gemixt hatte, kam nach eineinhalb Stunden endlich meine Ablösung.
Als ich hinaus auf die Straße trat, war es bereits dunkel. Kälte schlug mir entgegen und ließ mich die Arme vor der Jacke verschränken. An der Bushaltestelle angekommen, blieb ich stehen und wartete. Ich fror am ganzen Körper, trotzdem tat mir die Kühle auf eine unbeschreibliche Weise gut. Sollte ich die frische Luft wirklich mit der stickigen in einem Bus eintauschen? Ich wandte der Haltestelle den Rücken zu und machte mich zu Fuß auf den Heimweg. Überall herrschte reges Treiben, heute war viel mehr auf den Straßen los als sonst.
In mir herrschte eine unheimliche Ruhe, die mich schaudern ließ. Es war wie eine Ruhe vor dem Sturm, anders konnte ich dieses Gefühl nicht beschreiben. Einerseits war ich aufgewühlt, andererseits ging mein Puls so flach, als würde er jeden Moment aussetzen. Meine innere Angst fror die Schnelligkeit meiner Bewegungen ein. Angst davor, tatsächlich eine E-Mail von Elyas zu finden. Und die genauso große Angst, dass ich keine fand.
Immer wieder ging ich das Gespräch mit Sebastian durch, bis sich auf einmal eine andere Stimme in meine Gedanken schob. »Du warst der Hauptgrund, warum ich mich entschlossen hatte, nach London zu gehen.«
Es lag schon einige Monate zurück, als Elyas diese Worte an mich gerichtet hatte. Er wäre nicht fähig gewesen, länger mit mir im selben Ort zu leben, hatte er gesagt. So ganz hatte ich ihm das nie glauben können.
Jetzt, fast acht Jahre später, wollte er Berlin verlassen und nach Hamburg ziehen. War es aus dem gleichen Grund wie damals? Wiederholte sich unsere Geschichte? War Flucht Elyas‘ Art, mit Herzschmerz umzugehen?
Ich erinnerte mich an meinen Aufbruch nach Neustadt vor sechs Wochen. Der Grund dahinter war kein anderer gewesen. Wenn ich eins daraus lernte, dann dass ein Ortswechsel gewisse Dinge tatsächlich ein bisschen erleichterte. Aber die Gedanken, die Sehnsucht, die Wut und die Verzweiflung würde man in jede Stadt der Welt mitnehmen. Dagegen konnte ein Umzug nichts ausrichten.
Als ich das Unigelände erreichte, wurden meine Schritte noch langsamer. In meinem gesamten Leben hatte ich noch nie so bewusst einen Fuß vor den anderen gesetzt. Das Treppensteigen brachte wieder ein bisschen Wärme in meine steif gewordenen Muskeln. Nur meine Finger schmerzten noch vor Kälte.
»Eva?«, fragte ich in unsere kleine Wohnung. Ich bekam keine Antwort, schaltete das Licht an und schloss die Tür hinter mir. Der Laptop stand auf dem Schreibtisch. Ich verharrte einen Moment, zog dann die Jacke aus, warf sie aufs Bett und setzte mich auf den Bürostuhl. Während der Laptop hochfuhr, hatte ich keinen einzigen Gedanken im Kopf. Ich saß da, wartete auf das, was passieren würde.
96 E-Mails , zeigte der Spamordner an.
Meine Hand ruhte eine
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