Türkisgrüner Winter (German Edition)
»Man darf sich nicht jedem Anflug von Rachegefühlen beugen und genauso dumm handeln wie alle anderen. Das ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht, die in der Verantwortung eines jeden klugen Menschen liegt. Und dazu zählst du auch, Elyas.«
Er antwortete nicht. Nach einer Weile fuhr ich ruhiger fort.
»In der Verfassung, in der du gerade bist, klingt das wahrscheinlich alles wie totaler Schwachsinn – aber es ist wahr. Und wenn du selbst schon kein Argument findest, das dich wieder zur Vernunft bringt, dann liefere ich dir das größte von allen: Jessica . Glaubst du, sie wäre glücklich darüber, wenn sie aufwacht und hört, dass ihr guter Freund einen Mord begangen hat? Sie würde das nicht wollen. Niemals würde sie das wollen, Elyas.«
Ausdruckslos sah er mich eine Weile mit trüben Augen an.
»Und woher willst du wissen, dass sie überhaupt wieder aufwacht?«, fragte er leise.
Ich schluckte. Sein fragender Blick durchbohrte mich, doch ich konnte ihm keine Antwort darauf geben. Er schlang die Finger um meine Handgelenke und löste meine Hände von seinem Gesicht. Mit den Ellbogen stieß er sich von der Wand ab, lief ein paar Schritte und senkte den Kopf. Ich sah ihm nach und fuhr im nächsten Augenblick zusammen, als ein lauter Knall ertönte. Elyas hatte gegen einen Stuhl getreten und ihn paar Meter weit geschleudert.
»Hey!«, schrie der Pfleger sofort auf, der immer noch von Sebastian und den anderen beredet wurde. Elyas lief ohne sich umzudrehen tiefer in den Flur hinein.
»Nichts passiert! Er ist nur gestolpert!«, rief ich, bückte mich nach dem Stuhl und stellte ihn wieder auf seinen ursprünglichen Platz. Der Pfleger beobachtete mich wie ein Adler und öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen. Genau in dem Moment mischte sich Sebastian wieder ein und versuchte ihn abzulenken.
Ich sah zurück zu Elyas. Er war stehen geblieben, lehnte mit dem Rücken an der Wand und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Ganz langsam rutschte er mit dem Rücken die Wand hinunter. Sein Kopf sackte nach vorne und seine Hände krallten sich in die Haare.
Ohne darüber nachzudenken, lief ich zu ihm. Er sah nicht auf, als ich mich eng zu seiner Linken die Wand hinunter rutschen ließ. Ich betrachtete ihn, wie er da saß, zusammengekauert und innerlich zerfallen. Langsam streckte ich die Hand aus, legte sie vorsichtig auf seinen Kopf und spürte, wie er unter meiner Berührung noch ein Stück weiter nach unten sank. Ich streichelte durch seine zimtfarbenen Haare, über seine Finger, die sich darin vergruben und rechnete jede Sekunde damit, dass er aufstehen und gehen würde. Doch er blieb sitzen.
Nach einer Weile lehnte ich mich an seine Seite. Meine Hand wanderte von den Haaren zu seiner mir abgewandten Schulter und rieb seinen Arm. Ich konnte hören und an Elyas‘ leichten Bewegungen spüren, dass sich seine Atmung immer noch nicht beruhigt hatte. Aber jetzt schien der Grund dafür nicht mehr Wut zu sein, sondern Trauer. Ich küsste seine Schulter, bevor ich das Kinn darauf bettete und ihn lange von der Seite ansah.
Kein einziges Mal blickte er hoch, saß nur stumm da und starrte auf seine Knie. Ich wusste nicht, ob es ihm recht war, was ich hier tat, aber so lange er mich nicht davon abhielt, gab es nichts, was mich dazu bringen konnte ihn loszulassen.
Ich schob meine freie Hand unter seinen Armen hindurch und legte sie auf seine rechte Wange. Ganz sachte streichelte ich mit den Fingern über Elyas‘ weiche Haut und hoffte, ihm damit vielleicht ein bisschen Trost spenden zu können.
Ich konnte ihn riechen.
Süßlich, herb und nach Waschmittel. Ich atmete tief ein und zog Elyas ein bisschen näher an mich heran. Am liebsten hätte ich seinen ganzen Schmerz, seinen ganzen Kummer an mich genommen, damit er ihn nicht mehr tragen musste.
Ich suchte nach Worten, die ihm helfen könnten, und wusste nicht, ob mir nur keine einfielen, oder es in Wirklichkeit keine gab. Meine Finger wanderten von seiner Wange hoch zur Schläfe, schoben sich unter seine Hand und lösten sie langsam. Sie glitt in seinen Schoß und blieb halb geöffnet dort liegen. Ich griff nach seiner anderen Hand, die sich immer noch in den Haaren verkrampfte, streichelte sie, und schob dann auch dort die Finger darunter. Elyas hielt dagegen, sein angewinkelter Arm bildete die letzte Mauer zwischen uns. Ich streckte mich ein bisschen, hauchte einen Kuss auf seine Fingerknöchel, und wie die andere Hand zuvor fiel nun auch diese in seinen Schoß.
Erst
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