Türkisgrüner Winter (German Edition)
gestern eine Nacht«, sagte sie. »Ich war mit Nicolas und seinen Freunden bis 9 Uhr morgens unterwegs und habe seitdem kaum geschlafen. Und du? Was hast du Spaßbremse getrieben? Bist du hier geblieben?«
»Nein, ich war auf einer Party. Aus dem Feiern wurde dann nur nichts.«
»Wie darf man das denn verstehen?« Sie schüttelte sich die Schuhe von den Füßen, schlurfte barfuß zum Bett und ließ sich wie ein Sandsack darauf fallen.
»Man könnte sagen, dass etwas dazwischen kam«, begann ich und erzählte ihr die Kurzfassung des gestrigen Abends. Es gab wahrlich nicht viele Momente, in denen ich Eva sprachlos erlebt hatte. Dieser war einer von ihnen.
»Meine Güte, das ist ja total heftig«, antwortete sie schließlich.
»Das kannst du laut sagen.«
Ich blickte zurück an die Decke, erinnerte mich an das Warten in der Notaufnahme, bis sich mir auf einmal wieder eine andere Frage ins Gedächtnis drängte.
»Du, sag mal, Eva. Weißt du möglicherweise irgendetwas von einem Brief?«
»Ein Brief?«, fragte sie. »Für dich oder was meinst du?«
»Ja. Er soll hier für mich abgelegt worden sein. Wo genau, weiß ich nicht. Vermutlich vor der Tür oder im Briefkasten.«
Eva zog die Stirn kraus und überlegte angestrengt. »Nicht dass ich wüsste. Ich fand nur den, den ich dir neulich gegeben habe.«
Für einen kurzen Moment war ich irritiert, dann fiel mir wieder die Einladung zur Hochzeit ein. Ich hatte sie vollkommen vergessen. Sophies und Andys Vorfreude darauf war jetzt mit Sicherheit auch erst mal dahin. Unter einem schlechteren Stern könnte eine Hochzeit wohl kaum stehen. Hoffentlich würden sich die Dinge bis dahin wieder ein bisschen zum Guten gewendet haben.
»Und was soll mit dem Brief gewesen sein?«, fragte Eva. »War er wichtig?«
»Vermutlich sehr wichtig.« Ich seufzte und zog eine Haarsträhne durch meine Finger. »Er war von Elyas. Leider habe ich den Brief nie zu Gesicht bekommen. Du bist dir absolut sicher, dass du nirgends einen gesehen hast? Vielleicht hast du ja vergessen, ihn mir zu geben? Es muss schon längere Zeit zurückliegen. Ungefähr eineinhalb bis zwei Monate.«
»So schusselig bin ich nun auch wieder nicht«, sagte sie. »Okay, manchmal dauert es ein bis zwei Tage länger, aber ganz vergessen habe ich noch nie etwas.«
»Hast ja recht. Ich kann mir nur nicht erklären, wo er abgeblieben ist.«
»Vielleicht war‘s ja die alte Meierhuber.«
»Wer?«, fragte ich.
»Na die Putzfrau. Die Grimmige mit Kleiderschürze und fettigen Haaren.«
Ich kannte hier genau zwei Putzfrauen. Die eine war Türkin und die andere kam aus Bayern. Bei beiden verstand ich kein einziges Wort.
»Warum sollte sie so etwas tun?«, fragte ich.
»Weil die nicht ganz knusper ist in der Rübe.«
»Wie darf man das denn verstehen?«
Eva streckte sich. »Vor sechs, sieben Wochen hat sie die Treppen gewischt. Ich gehe nach oben und auf einmal fängt sie an mich auf bayrisch zu beschimpfen.«
Ich lachte. »Bitte?«
»Ja ja«, sagte Eva. »Ohne Witz. Wie eine Furie.«
»Was hat sie denn gesagt?«
»Ich habe nur die Hälfte verstanden. Irgendetwas mit ›Kruzitürken, du elendes Sauweib! Grod hob ich gwischt, sappst ma du mit dei dreggaden Quadratlatschen nei!‹. Ich wusste überhaupt nicht, was die von mir will. Meine Schuhe waren sauber.«
Die bildliche Vorstellung von Evas Erlebnis fand ich durchaus unterhaltsam. »Wie hast du reagiert?«
»Ich fragte sie, warum sie mich so blöd anmacht. Dann hat sie mir einen Vortrag gehalten, wie ›dypisch‹ das wäre für uns Studenten, Menschen wie sie als ›Fußvolg‹ zu behandeln, das ›bloß dazou do is, um euern Dregg wegzuwischn‹. Ich sagte ihr, dass sie mal klarkommen soll. Daraufhin ist sie völlig durchgedreht. Sie wollte mit dem Schrubber auf mich los! Ich habe das Weite gesucht und die Alte stehen lassen.«
Ich legte den Kopf in den Nacken, hielt mir den Bauch und lachte. »Herrlich«, sagte ich. »Aber glaubst du, sie ginge wirklich so weit und würde einen Brief wegnehmen? Weiß sie überhaupt, in welchem Zimmer du wohnst?«
»Klar weiß die das. Außerdem wurde sie von den anderen schon mehrmals des Klauens verdächtigt. Jörg von Zimmer A7, der große Dürre, kennst du ihn?«
Ich nickte.
»Der hat erst neulich zwei DVDs im Aufenthaltsraum vergessen. Fünf Minuten später merkte er es, ging zurück und sah die Meierhuber gerade noch schnellen Schrittes aus dem Raum laufen. Und was war? Die DVDs waren weg.«
»Okay, das klingt
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