Türkisgrüner Winter (German Edition)
Ausrede sein, auch wenn es vielleicht so klingt. Aber die Wahrheit ist, ich hätte es nicht ausgehalten, wenn du dich um mich gekümmert hättest. Du wärst am nächsten Tag wieder fort gewesen und–« Er brach ab. Das unausgesprochene Ende seines Satzes schwebte für einen Moment im Raum.
»Elyas«, sagte ich. »Auch wenn ich alles momentan noch nicht wirklich einordnen kann – aber wahrscheinlich verstehe ich dich in der Hinsicht besser, als du dir vorstellst.«
Er sah mich an und es wurde still zwischen uns beiden. Dieses Mal war er derjenige, der den Augenkontakt beendete.
»Wo hast du den Brief abgelegt?«, fragte ich.
»Vor der Tür.« Er senkte den Kopf. »Auf die Türmatte.«
Nun ja. Zwar hätte ich auch nicht erwartet, dass ihn jemand von dort entwenden würde, aber der sicherste Platz war das natürlich bei weitem nicht.
»Jetzt im Nachhinein kommt mir das auch mehr als dumm vor«, sprach er geknickt weiter. »Es war morgens um fünf, ich war völlig übernächtigt, weil ich die ganze Nacht an dem Brief geschrieben habe. Eigentlich wollte ich ihn dir persönlich geben, aber als ich vor deiner Tür stand …« Er schloss die Augen. »Ich habe es einfach nicht fertiggebracht zu klopfen. Also habe ich ihn abgelegt, mit dem Wissen, dass du dir jeden Morgen einen Kaffee aus dem Aufenthaltsraum holst. Ich war mir sicher, spätestens dann würdest du ihn finden. Es waren höchstens zwei Stunden bis dahin. Frag mich nicht, wieso, aber nicht im Traum habe ich in Erwägung gezogen, dass der Brief dich womöglich gar nicht erreicht hat.«
Zwei Stunden waren wirklich nicht lange, vor allem zu einer Uhrzeit, in der Studenten für gewöhnlich nicht in wachem Zustand angetroffen werden. Ich dachte an Evas Erzählung über die Putzfrau zurück. Vielleicht musste gar nicht zwangsläufig Neugierde dahinter gesteckt haben, vielleicht hatte sie den Brief als Müll angesehen?
Wer und warum auch immer – fest stand nur, irgendjemand musste es gewesen sein. Und so groß das Rätsel auch war, im Moment wirkte es doch irgendwie nichtig. In meinem Kopf existierte eine andere Frage, die alle anderen in den Hintergrund drängte.
»Es war nicht der einzige Brief, den ich dir geschrieben habe«, sagte Elyas. »Aber die anderen schafften es nicht mal bis zu deiner Tür.«
Er hatte mir sogar mehrere geschrieben?
Die Dunkelheit, die um den Inhalt dieser Briefe lag, hatte sich seit gestern wie ein Schatten über mich ausgebreitet. Nicht einmal Schemen konnte ich erkennen, nicht den kleinsten Anhaltspunkt. Jede Sekunde, die verstrich, fühlte ich mich blinder in einem Labyrinth aus Schwärze. Meine Anspannung stieg ins Unermessliche und der Drang, endlich Licht zu sehen, wurde größer als meine Angst.
»Was …«, fragte ich. »Was stand in dem Brief, Elyas?«
Er sah mich eine Weile an, ehe er den Blick zurück auf seine Knie richtete. »Vieles«, sagte er. »Aber vermutlich nicht mal im Ansatz das, was ich dir eigentlich sagen wollte.«
Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, als ich die nächsten Worte über meine Lippen brachte. »Warum die Mails, Elyas? Warum hast du das mit Luca getan? Warum?«
Er legte den Kopf in den Nacken und nahm einen tiefen Atemzug. »Das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Ich würde es dir gerne erklären. Damit du es aber zumindest ansatzweise – wenn überhaupt – verstehen kannst, muss ich ziemlich weit ausholen.«
Seine Augen wirkten matt und lösten die kleine Hoffnung, dass ich sein Handeln jemals nachvollziehen und verzeihen könnte, in Rauch auf. Trotzdem nickte ich.
»Fang dort an, wo du es für richtig hältst«, sagte ich und bettete die Wange auf meine angezogenen Knie.
»Gar nicht so leicht«, lächelte er hilflos.
Ich versuchte zurückzulächeln, um ihm Mut zu machen, aber so ganz wollte mir das nicht gelingen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was auf mich zukommen würde.
»Bevor ich anfange, möchte ich dir eine Sache vorweg sagen, Emely. Ich will dich nicht schon wieder anlügen und werde dir deswegen die unverblümte Wahrheit erzählen. Sollte ich etwas sagen, das dich kränkt oder dir nicht gefallen wird, dann lauf bitte nicht gleich davon. Insofern ich das überhaupt von dir verlangen kann.«
»Ich werde nicht weglaufen«, sagte ich, auch wenn ich das, um ehrlich zu sein, bereits in diesem Augenblick nur allzu gerne getan hätte.
»Okay.« Er sammelte sich einen Moment und fokussierte einen Punkt auf dem Bett, ehe er heiser zu reden begann. »Ich habe
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