Türkisgrüner Winter (German Edition)
Gerade bei Chirurgen verschiebt sich leicht die Sichtweise. Sie haben keinen Menschen mehr vor sich liegen, sondern ein Objekt, an dem man herumexperimentieren kann. Bei manchen Kollegen wirkte es auf mich, als hätte das medizinische Wissen über den Organismus und der technische Fortschritt die eigene Ethik verschluckt.«
»Bei einer neunzigjährigen Frau«, fuhr er fort. »bei der fortgeschrittener Krebs diagnostiziert wurde und dessen Unheilbarkeit klar ist, warum kann man da nicht einfach aufhören?« Fragend sah er mich an, doch ich konnte nur mit den Achseln zucken.
»Stattdessen wird der Patientin erzählt, man könne operieren und den Krankheitsverlauf hinauszögern. Das stimmt auch, man kann so gut wie alles operieren und hinauszögern. Und als Patient klammert man sich an den kleinsten Strohhalm. Natürlich, weil man selbst mit neunzig Jahren nicht sterben will. Aber was solchen Menschen nicht gesagt wird, ist der absehbare Verlauf und das Resultat derartiger Therapien. Die Operationen und aggressiven Medikamente schlauchen die älteren Menschen meist so sehr, dass sie für Wochen zu halben Pflegefällen werden. Das ist Zeit – Zeit, die ihnen genommen wird.
Ich erlebte mehrmals, dass solche Patienten nie wieder das Krankenhaus verlassen haben«, sagte er. »Sie starben dort. Wegen körperlicher Schwäche an den Folgen der Behandlungen, an den Operationen oder an dem Krebs selbst. Nur angesichts fehlender Ethik hat man diesen Menschen die letzten Wochen, vielleicht Monate genommen. Zeit, die sie zu Hause hätten verbringen können, stattdessen vegetierten sie im Krankenhausbett dahin. Zeit, in der sie, solange sie noch bei Kräften sind, alles hätten nachholen können, was sie bis dahin versäumt haben. Zeit … Lebenszeit.«
Elyas sah auf den steinigen Kies, doch es wirkte auf mich, als würde sein Blick viel weiter gehen und seine Augen in Wahrheit etwas ganz anderes sehen. Für eine ganze Weile beobachtete ich ihn still.
Es war ein bisschen so, als säße gerade der kleine Elyas neben mir. Der, den ich von früher kannte, mit all seinen kindlichen Träumen und Idealen. Und gleichzeitig erkannte ich ganz deutlich den erwachsenen Elyas, der gegen die Wand der Realität gelaufen war und verbittert zurückblieb. All seine Vorstellungen – nicht mehr als ein riesengroßer Irrtum.
»Ich glaube«, sagte ich schließlich, »dass ich verstehe, worin dein Problem liegt.«
Etwas verzögert hob er den Kopf. »Ach ja?«
»Ja«, sagte ich und schob die Hände zwischen meine Oberschenkel. »Du denkst, dass du es nicht so schaffen wirst wie Ingo. Du hast Angst, den eigentlichen Grund, warum du diesen Beruf gewählt hast, irgendwann aus den Augen zu verlieren.
All diese furchtbaren Dinge, die du erzählt hast … Man braucht eine tiefe innere Überzeugung, einen festen Willen und einen großen Glauben an das, was man tut, damit man die eigenen Ideale nicht aus den Augen verliert. Du zweifelst, ob du stark genug sein wirst, um dem System standzuhalten. Du hast Angst, dass du dich irgendwann von den Umständen unterkriegen lässt. Oder, noch schlimmer, ein Teil des Systems wirst.«
Er blickte mich an und sagte für einen Moment gar nichts. Ich bekam schon Sorge, ob ich vielleicht zu weit gegangen war oder komplett danebenlag, da öffnete er auf einmal doch seinen Mund. »Wow«, sagte er. »Du bist echt gut.«
»Ich … ich habe es ja nur zusammengefasst«, sagte ich.
Er lächelte. »Ich habe nicht übertrieben, ich habe unter trieben. Du bist nicht gut.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Vielmehr bist du das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist.«
Mein Hals wurde ganz trocken, ich spürte Hitze in mein Gesicht steigen und sah in alle Richtungen, nur nicht in die von Elyas. Wie konnte er nur so etwas sagen?
»Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht verlegen machen. Es war ein blöder Zeitpunkt und passte eigentlich gar nicht zum Thema und –«
»Nein, nein!«, unterbrach ich ihn. »Um Gottes Willen, nicht entschuldigen. Das brauchst du nicht. Ich … ich bin einfach nur blöd.«
»Blöd?«, fragte er mit einem Schmunzeln. »Glaube mir, Emely, ›blöd‹ ist wahrlich keines der Attribute, die mir als erstes zu deiner Person einfallen würden.«
Oh je. Das wurde immer schlimmer. Themenwechsel , fiel es mir ein. Genau, Themenwechsel war eine sehr gute Idee! Eine nahezu blendende Idee!
»Also, wegen deines Studiums«, plapperte ich und hatte Mühe, das Luftholen nicht zu vergessen. »Gibt
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