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Türkisgrüner Winter (German Edition)

Türkisgrüner Winter (German Edition)

Titel: Türkisgrüner Winter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carina Bartsch
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seine Maske ab und ließ mich für einen Augenblick in die verborgene und tiefgründige Welt hinter seinen anzüglichen Sprüchen sehen. Ich mochte, was ich sah. Und ich wollte mehr davon.
    »Kannst du mir folgen?«, fragte er.
    »Ich denke schon«, sagte ich mit etwas brüchiger Stimme. »Leben kann sehr kurz sein. Die einzige Hoffnung, die uns bleibt, ist, dass wir irgendwann darauf zurücksehen und finden, dass wir die Zeit für uns selbst und für andere sinnvoll genutzt haben.«
    Er lächelte, auch wenn es seine Augen nicht vollends erreichte. Für eine sehr lange Weile blickte er mich an, dann galt seine Aufmerksamkeit wieder seinen Händen. Als er weitersprach, klang seine Stimme verbittert. »Inzwischen weiß ich allerdings, dass die Realität anders aussieht«, sagte er. »Arzt zu sein hat nichts damit zu tun, Menschen zu helfen. Im Gegenteil, es ist ein völlig verschrobenes System.«
    Elyas schien nicht zu wissen, ob er an dieser Stelle enden sollte, und so nahm ich ihm die Entscheidung ab. »Erzähl weiter«, sagte ich.
    Er atmete tief durch. »Mein Vater hat selten über die Schattenseiten seines Berufes geredet, nur hin und wieder ließ er etwas durchklingen. Aber ich war einfach zu jung, um auch nur im Ansatz zu verstehen, was er damit meinte. Als ich dann vor zwei Jahren meinen Zivildienst antrat, traf mich die Realität wie ein Schlag ins Gesicht. Mein naives Traumbild vom Beruf als Arzt war zwar süß, hatte jedoch rein gar nichts mit dem zu tun, was mich in dem Jahr dort erwartete.«
    »Was hast du dort erlebt?«, fragte ich.
    Elyas seufzte. »Vieles«, sagte er. »Auch sehr viel Trauriges. Aber von den ganzen tragischen Einzelschicksalen abgesehen, bekam ich einen Einblick, wie alles abläuft. Wie das System funktioniert. Was sich in der Pflege abspielt.
    Man kann sich nicht ernsthaft um Patienten kümmern, weil einfach keine Zeit dafür da ist und das Personal immer mehr reduziert wird. Stattdessen geht die Zeit dafür drauf, dass man jeden Scheiß dokumentieren muss. Sei es, damit das Krankenhaus abgesichert ist, Leistungsnachweise, Studien, Berichte für die Krankenkasse – und, und, und. Im Prinzip ist es viel wichtiger, seinen Haken auf zig Formularen zu setzen, als die Untersuchung tatsächlich am Patienten durchgeführt zu haben.«
    »Eigentlich«, sagte er und zuckte die Schultern, »ist der Ablauf in einer Klinik kein anderer, als die Arbeit am Fließband in einer Fabrik. Das Personal kann am wenigsten dafür. Die Anweisungen kommen von oben. Ärzte, Schwestern und Pfleger müssen selbst sehen, wie sie Moral und die begrenzten Möglichkeiten unter einen Hut bekommen.
    Wusstest du zum Beispiel, dass in Krankenhäusern schon seit längerer Zeit nicht mehr von ›Patienten‹ die Rede ist?«, fragte er. Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er weiter. »Es gibt keine Patienten mehr. Inzwischen bezeichnet man sie als ›Kunden‹. Das ist kein Scherz. Es kommt kein Patient ins Krankenhaus, weil er krank ist und Hilfe braucht – nein. Es kommt ein Kunde, an dem eine Dienstleistung erbracht wird, die dem Krankenhaus Geld bringt. Darum geht es und um nichts anderes.«
    Hinter uns raschelte etwas ganz leise. Vermutlich eine kleine Maus, die sich durch das Laub wühlte. Mein Augenmerk lag jedoch nur auf Elyas. Einerseits schien er sich schwer damit zu tun, über all diese Dinge zu reden, andererseits wirkte er erleichtert, sie endlich aussprechen zu können.
    »Die meisten Ärzte sind völlig übermüdet und körperlich am Ende«, sagte er. »Eigentlich ist es fahrlässig, sie überhaupt noch auf Patienten loszulassen. Im Schnelldurchlauf rennt man von Patient zu Patient und rattert seine Diagnose ab. Letztendlich befolgen sie auch nur Anweisungen, aber viele stecken so tief drin, dass sie gar nicht merken, wie falsch eigentlich alles läuft.«
    Elyas hob die Hand ein bisschen an, nur um sie kurz darauf wieder in seinen Schoß fallen zu lassen. »Was soll man auch machen?«, fragte er. »Das ist die Arbeit, die man gelernt hat. Also tut man sie. Es bleibt einem nichts anderes übrig.«
    »Hast du gewusst, Emely, dass von allen Berufsgruppen bei Ärzten die höchste Selbstmordrate besteht? Und soll ich dir etwas sagen? Es wundert mich kein Stück.« Elyas schnaubte. »Dabei geht es nicht mal nur um den hohen Stressfaktor und die Umstände, sondern auch um die Medizin an sich. Die Medizin kennt einfach keine Grenzen mehr. Es wird gemacht und gemacht und gemacht – ohne Rücksicht auf Verluste.

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