Tunnel - 02 - Abgrund
sie knirschten. Mit geballten Fäusten stieß er einen unmenschlichen Laut aus, irgendetwas zwischen einem Knurren und einem Schrei. Er versuchte, seine Gefühle zu ordnen, musste jedoch feststellen, dass er seinen Zorn und seine Selbstverachtung nicht zügeln konnte.
Idiot! IDIOT! IDIOT!
Es schien, als hätte die barsche Stimme in seinem Kopf die Oberhand gewonnen und würde nun jede Hoffnung auf eine unversehrte Rückkehr aus diesem Labyrinth zunichte machen. Er war ein Trottel, und er verdiente es zu sterben. Nach einer Weile richtete sich seine Wut jedoch gegen die anderen: Er gab vor allem Chester und Elliott die Schuld an seiner Situation und beschimpfte sie auf übelste Weise; er schrie die stillen Wände an und sehnte sich danach, jemandem wehzutun, jemandem Schmerzen zuzufügen. Und in der Anonymität der Dunkelheit begann er, sich selbst zu schlagen, trommelte mit den Fäusten auf seine Oberschenkel und verpasste sich einen Hieb gegen die Schläfe. Der Schmerz bewirkte eine Art stechende Klarheit, die ihn wieder zur Besinnung kommen ließ.
NEIN, SO LEICHT GEBE ICH NICHT AUF! Ich muss weitergehen. Er sank auf die Knie und krabbelte los, wobei er den Boden vor ihm mit den Fingerspitzen wieder und wieder auf mögliche Risse und Felsspalten erkundete, um nicht blindlings in eine tiefe Schlucht zu stürzen. Plötzlich stießen seine Finger auf einen Widerstand. Die Wand! Will seufzte erleichtert, rappelte sich langsam auf, hielt sich an der Wand fest und setzte seine schrittweise tastende Wanderung fort.
In den darauffolgenden Stunden passierte der Grubenzug noch eine ganze Reihe weiterer Sturmtore, wie Rebecca sie genannt hatte.
Das erste Warnzeichen, das Sarah verriet, dass sie sich ihrem Zielort näherten, war eine klirrend scheppernde Glocke, gefolgt vom lauten Pfeifen der Lokomotive. Wenige Augenblicke später wurden die Bremsen betätigt, und der Zug kam quietschend zum Stehen. Dann schob jemand die schweren Schiebetüren des Dienstwagens zur Seite, die den Blick auf den Grubenbahnhof freigaben. Aus den Fenstern eines gedrungenen Gebäudes fiel gedämpftes Licht.
»Endstation«, verkündete Rebecca mit einem angedeuteten Lächeln. Als Sarah aus dem Waggon sprang und ihre steifen Beine streckte, sah sie, dass eine Delegation von Styx im Sturmschritt auf sie zukam.
Rebecca schnappte sich ihre Ledertasche, befahl Sarah, am Zug zu warten, und hastete der Delegation entgegen. Die Gruppe bestand aus mindestens einem Dutzend Styx, die in so großer Eile über das Bahnhofsgelände liefen, dass sie eine Staubwolke hinter sich aufwirbelten. Sarah erkannte einen der Männer wieder – es war der alte Styx, der sie am Tag ihrer Rückkehr in die Kolonie in der Kutsche begleitet hatte.
Sofort setzten Sarahs alte Reflexe wieder ein, und sie nutzte die Wartezeit, indem sie sich in Gedanken notierte, wie viele Eisenbahner und anderes Personal den Bahnhof bedienten und wo sie sich aufhielten. Falls sich ihr die Chance zur Flucht bieten sollte, wäre es von großem Nutzen, das Gelände und seine Gegebenheiten gut zu kennen.
Neben den zahlreichen, über den Bahnhof verteilten Grenzern entdeckte Sarah noch eine Truppe von Styx-Soldaten der Division, die sie sofort am grünen Camouflagemuster ihrer Uniformen erkannte. Aber was machten sie hier unten?, fragte Sarah sich verwundert. Sie waren ziemlich weit von ihrem Stützpunkt entfernt. Sarah schätzte die Zahl der Soldaten auf etwa vierzig Mann, von denen die Hälfte sich um die Waffen kümmerte, darunter auch Mörser und verschiedene großkalibrige Gewehre. Die restlichen Soldaten saßen auf Pferden und schienen gerade losreiten zu wollen. Pferde! Was zum Teufel ging hier vor?
Sarah richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Aufbau der Höhle und betrachtete die Signalbrücken und Verbindungsstege unter der Decke. Sie bemühte sich, einen anderen Ausgang aus der Höhle zu finden als den der Zuggleise, gab den Versuch aber bald darauf auf- in der tiefen Dunkelheit, die den Bahnhof umhüllte, ließ sich einfach nichts erkennen.
Allmählich begann sie in der schweren Uniform der Grenzer zu schwitzen, und ihr wurde bewusst, wie viel wärmer es in diesen Gefilden war. Als sie die heiße, trockene Luft einatmete, erschien es ihr, als würde alles verbrannt riechen. Doch obwohl ihr diese neue Umgebung vollkommen fremd war, wusste sie, dass sie sich bald akklimatisieren würde, genau wie es ihr in Übergrund gelungen war.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung rechts neben dem
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