Tunnel - 02 - Abgrund
sinken, schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft und murmelte vor sich hin. Dann richtete er sich unter enormer Kraftanstrengung wieder auf und rieb sich die Augen mit den Fingerknöcheln – der Druck erzeugte verschwommene, extrem helle Lichtreflexe, die seine Nerven beruhigten. Doch das verschaffte ihm nur kurz Linderung, da die Dunkelheit danach sofort zurückschwappte.
Wie so viele Male zuvor hockte er sich auf den Boden und überprüfte den Inhalt seiner Hosentaschen. Natürlich war diese Aktion reinste Zeitverschwendung, ein Ritual, bei dem nichts herumkommen würde, denn Will wusste nur zu gut, was sich in den Taschen befand. Doch er hoffte inständig, dass er vielleicht etwas übersehen hatte, etwas – und sei es auch noch so unbedeutend –, das er irgendwie nutzen konnte.
Zunächst holte er sein Taschentuch hervor und breitete es auf dem Boden vor ihm aus. Dann nahm er die anderen Gegenstände aus den Taschen und legte sie tastend auf die glatte Fläche des Stoffquadrats: sein Taschenmesser, einen Bleistiftstummel, einen Knopf, ein Stück Kordel, weiteren nutzlosen Krimskrams und zum Schluss die Taschenlampe mit den leeren Batterien. Er nahm jeden Gegenstand in die Hand und betastete ihn in der völligen Dunkelheit von allen Seiten, in der Hoffnung, dass er vielleicht doch auf wundersame Weise zu seiner Rettung beitragen konnte. Schließlich stieß er ein kurzes, enttäuschtes Lachen hervor.
Das war lächerlich.
Was glaubte er denn eigentlich, was er da tat?
Trotz allem untersuchte er seine Hosentaschen noch ein letztes Mal, nur für den Fall, dass er irgendetwas übersehen hatte. Aber die Taschen waren und blieben leer, abgesehen von etwas Staub und Dreck. Will schnaubte vor Enttäuschung und wappnete sich dann für den letzten Teil des Rituals: Er nahm die Taschenlampe und wog sie in den Händen.
Bitte, bitte, bitte!
Er betätigte den Schalter. Nichts. Absolut nichts. Nicht einmal der entfernteste Schimmer eines Lichtscheins.
Verdammt! Du blöde Funzel!
Wieder einmal hatte sie ihn im Stich gelassen. Will überkam der unbändige Drang, der Taschenlampe Schmerzen zuzufügen; er wollte, dass sie litt – genau wie er selbst.
Rasend vor Wut hob er den Arm und holte aus, um das nutzlose Gerät weit wegzuschleudern, seufzte dann aber und ließ den Arm sinken. Er konnte sich einfach nicht dazu überwinden. Frustriert knurrend stopfte er die Lampe wieder in die Tasche. Dann bündelte er die restlichen Gegenstände in seinem Taschentuch und schob auch sie wieder in die Hosentasche.
Warum … warum nur habe ich nicht wenigstens eine Leuchtkugel mitgenommen? Ich hätte so leicht eine einstecken können!
Es wäre in der Tat einfach gewesen – eine kleine Mühe, die nun aber einen himmelweiten Unterschied machen würde. Will dachte über seine Jacke nach. Wenn er doch nur so clever gewesen wäre, sie nicht auszuziehen! Vor seinem inneren Auge sah er, wo er sie zurückgelassen hatte, oben auf seinem Rucksack. Seine Styx-Laterne war daran befestigt, und in den Jackentaschen befand sich neben einer weiteren Taschenlampe noch ein Päckchen Streichhölzer, von den Leuchtkugeln ganz zu schweigen.
Hätte ich doch nur … hätte ich doch nur …
Diese einfachen Gegenstände wären für ihn nun lebenswichtig gewesen. Stattdessen hatte er nichts bei sich, das auch nur von irgendeinem Nutzen schien.
»DU VERDAMMTER IDIOT!«, brüllte er plötzlich, trieb sich dann mit krächzender Stimme vorwärts und verfluchte die Dunkelheit um ihn herum, beschimpfte sie nach Strich und Faden. Danach verstummte er, weil er sich plötzlich einbildete, er könnte sehen, wie sich irgendetwas langsam in sein Blickfeld schob. War da ein Licht, ein flimmernder Lichtblitz zu seiner Rechten?
Wo? Da! Nein, dort, ja, dahinten, ein Schimmern, ja, ein Licht, ein Ausweg? Ja!
Sein Herz begann, wie wild zu schlagen, und er bewegte sich auf das Licht zu, nur um auf dem unebenen Boden erneut zu stolpern und hinzustürzen. Rasch rappelte er sich auf und suchte nach dem Licht, starrte fieberhaft in die samtschwarze Dunkelheit.
Es ist weg. Wo ist es hin?
Das Licht – falls es überhaupt eines gegeben hatte – war nicht mehr zu sehen.
Wie lange kann ich noch so weitermachen? Wie lange, ehe ich … Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen, während ihm der Atem stockte.
»Ich bin zu jung zum Sterben«, sagte er laut und erkannte zum ersten Mal in seinem Leben, was diese Worte wirklich bedeuteten. Plötzlich hatte er das Gefühl,
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