Turm der Lügen
repräsentativeres Gewand austauschen müssen. Wenn sie sich in der Stadt zeigte, erwartete man eine Prinzessin zu sehen. Sie ging zu ihren Gemächern.
Die übrige Gesellschaft begab sich in die große Halle, wo man sich an Erfrischungen gütlich tat. Die Hinrichtung des Vortages war allgemeines Gesprächsthema.
»Wie schade, dass Jeanne meine Einladung nicht angenommen hat, das Spektakel von den Fenstern des
Tour de Nesle
aus mit uns zu beobachten.« In Marguerites leicht heiserer Stimme klang Erregung. »Wir hatten von dort, aus luftiger Höhe, einen hervorragenden Blick hinüber zu den Ereignissen auf der Judeninsel. Es war furchterregend und ergötzlich zugleich. So schrecklich eine Hinrichtung auch ist, so macht sie einem doch den Wert des eigenen Lebens und Wohlergehens auf besondere Art bewusst.«
»Ein Todesurteil muss vollzogen werden, das sehe ich ein«, antwortete Philippe von Aunay erschauernd. »Aber das Spektakel, das rund um eine jede Hinrichtung gemacht wird, stößt mich ab. Dem Tod eines Menschen wie einem Schauspiel beizuwohnen, das erscheint mir barbarisch.«
»Welch sanftes Gemüt Ihr doch habt, mein Freund«, mischte sich Blanche zwitschernd ein und warf gleichzeitig seinem Bruder einen schmachtenden Blick zu. »Ich verstehe, dass die Königin von Navarra Eure Gesellschaft so sehr schätzt. Wer einen Mann hat, der ständig nur von Krieg und Totschlag redet, sehnt sich in der übrigen Zeit nach einem feinfühligen Menschen wie Euch.«
»Ich bin kein Feigling, falls Ihr mir das vielleicht unterstellen wollt, Madame«, verwahrte sich Philippe verstimmt. »Ich habe in Kriegen gekämpft und Turniere gewonnen.«
»Wir wissen, dass Ihr ein Held seid, Philippe«, beruhigte ihn Marguerite leicht anzüglich und nahm sich eine gezuckerte Mandel zwischen die Lippen. »Lasst Euch von der Gräfin nicht ärgern. Und du, Blanche, benimm dich. Du weißt, wie streng deine Schwester Sitte und Anstand nimmt.«
Séverine wollte sich gerade unbemerkt in ihre Kammer begeben, als Marguerite sich umdrehte.
»Sieh an, Jeannes Schützling.« Träge winkte sie Séverine näher. »Dich hatte ich ja fast vergessen.«
»Majestät.«
Eine Reverenz erweisend, wartete Séverine. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Was wollte sie von ihr? Hatte sie erfahren, dass sie sie im
Tour de Nesle
beim Ehebruch gesehen hatte?
»Deine Herrin schenkt dir volles Vertrauen, nicht wahr?«
Was sollte sie antworten? Sie beschränkte sich auf ein stummes Nicken. Sie war sich bewusst, dass alle sie beobachteten. Hinter ihrem Rücken wurde getuschelt.
»Du bist im besten Heiratsalter und sehnst dich sicher nach einem eigenen Hausstand«, fuhr Marguerite fort und schürzte die Lippen. »Hat meine Schwägerin schon einen Mann für dich ins Auge gefasst?«
»Was kümmert es dich, mit wem diese kleine Magd verheiratet wird?« Blanche klang gelangweilt.
»Sieh sie dir doch einmal genauer an, die kleine Magd. Erkennst du die Ähnlichkeit nicht, Blanche?«
Marguerite lachte höhnisch, aber sie sprach so leise, dass man sie nur in ihrer unmittelbaren Umgebung verstand. »Deine Schwester Jeanne übertreibt es mit ihren guten Werken. Sie sammelt die Bastarde eures Herrn Vaters ein. Vermutlich hat ihr eure Mutter ans Herz gelegt, den König mit ihrer christlichen Mildtätigkeit zu beeindrucken. In der letzten Zeit ist er wahrhaft lästig fromm geworden. Ginge es nach ihm, müssten wir alle ein Leben führen, das uns die Heiligsprechung sichert, wenn wir vor Langeweile gestorben sind.«
Blanche fasste Séverine verächtlich ins Auge. »Wenn sie wirklich ein Bastard unseres Vaters ist, muss man das arme Wesen in ein Kloster stecken und darf es nicht unter anständigen Menschen leben lassen.«
Die Art und Weise, wie die beiden Frauen über sie sprachen, ohne sich um ihre Anwesenheit oder gar ihre Empfindungen zu kümmern, kränkte Séverine tief. Wollte sie die Schmach tilgen, musste sie in Erfahrung bringen, wer ihre Eltern waren. Warum verschwieg Adrien ihre Namen so standhaft? Beim nächsten Treffen würde sie ihn nicht gehen lassen, ohne dass er es ihr sagte, das schwor sie sich.
Marguerite sah Jeanne wieder in die Halle treten.
»Wir werden später über die Angelegenheit reden«, beruhigte sie Blanche, so leise es ging.
»Worüber wollt ihr reden?« Jeanne war außer Atem, so sehr hatte sie sich beeilt.
»Nichts Wichtiges«, tat Marguerite ihre Frage zwanglos ab. »Lass uns gehen, meine liebe Jeanne. Ein wenig Zerstreuung wird uns
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