Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
war mir nicht sicher, ob er damit die Schwestern oder uns besänftigen wollte. Nein. Addie besänftigen wollte. Denn Addie war nicht ich und ich war nicht sie und das war gut so – aber in diesem Moment fühlte es sich an, als hätten wir uns so weit voneinander entfernt, dass wir in der Mitte zu zerreißen drohten.
Wir hatten das Stück Pappe nicht mehr. Es wäre zu gefährlich gewesen. Addie hatte es unter unserem T-Shirt versteckt, bis wir wieder drinnen waren. Dann hatte sie es ganz unten in den Abfalleimer im Badezimmer gestopft, nachdem sie die Schrift mit Wasser bis zur Unleserlichkeit verschmiert hatte. Sie hätte die Pappe die Toilette hinuntergespült, aber das hätte die Rohre verstopfen können.
Addie. Eva.
Wir möchten Euch helfen, hier rauszukommen.
Die Krankenschwester klatschte in die Hände und forderte alle dazu auf, sich neben der Tür aufzustellen. Ich sah, wie Devon uns einen raschen Blick zuwarf, aber seine Miene verriet nichts. Dann sah er wieder weg, und es gab nichts, was ich hätte tun können, um erneut seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ab und zu wurde uns noch immer schwindelig, die Welt schwankte, wenn wir zu schnell aufstanden. Unsere Arme und Beine taten weh. Über Nacht hatten sich blaue Flecken gebildet, lila und rot auf unseren Beinen, unseren Armen, um den Verband an unserer Stirn.
Devon stand relativ weit vorn in der Reihe, daher ließen wir uns zurückfallen. Die anderen Kinder ignorierten uns nach wie vor. Wir müssen katastrophal ausgesehen haben – beinah beängstigend. In gewisser Weise war ich froh, nicht beachtet zu werden. Es gab auch so schon genug, über das wir nachdenken mussten.
Der Paketbote. Derjenige, den wir an unserem ersten Tag gesehen hatten, während unserer ersten Minuten in der Nornand Klinik. Er hatte uns damals angestarrt, und wir hatten angenommen, es läge daran, dass wir hybrid seien und das einen makabren Reiz auf ihn ausübe. Aber was war, wenn es daran gelegen hatte, dass wir hybrid waren und …
Wir möchten Euch helfen, hier rauszukommen.
Aber bestimmt nicht bloß uns. Er meinte alle. Alle Kinder. Also wieso hatte er Kontakt zu uns aufgenommen und warum gerade jetzt?
Und wen meinte er mit Wir?
Spielte es eine Rolle? Falls sie uns halfen, hier rauszukommen, spielte es dann noch eine Rolle, wer sie waren?
Wir schlossen die Augen, und ich sah plötzlich eine Erinnerung an Jaime, wie er im Keller weinte.
Er ist weg. Sie haben ihn rausgeschnitten. Er ist weg. Er ist weg.
An Mr Conivent, im Studierzimmer, wie er den Bleibstift in unseren Handrücken bohrte.
Der perfekte Tag für eine Operation.
Wir würden diesen Ort gegen jeden anderen eintauschen. Noch wichtiger, wir mussten Lissa und Hally hier rausschaffen, ehe es zu spät war.
Wir rannten in das kleine Mädchen hinein, das vor uns lief, weil es plötzlich stehen blieb. Sie drehte sich gerade lang genug um, um uns mit gerunzelter Stirn anzusehen und vielsagend auf die Krankenschwester zu deuten, die eine Pause eingelegt hatte, um mit einem der Krankenpfleger zu plaudern. Das Mädchen hatte die hellsten blonden Haare, die wir je gesehen hatten, und war vielleicht elf Jahre alt. Kittys Alter. Hübsch, hätte ich zu jedem anderen Zeitpunkt gedacht. In diesem Augenblick jedoch kämpfte ich dagegen an, sie mir eingesperrt im Keller neben Jaime vorzustellen, schluchzend und gegen die Tür hämmernd. Oder ausgestreckt auf dem Operationstisch, das federweiche Haar halb abrasiert, der entblößte Schädel dem Messer ausgeliefert.
Addie schrie beinah auf, als jemand unser Handgelenk packte. Aber Gott sei Dank schluckten wir den Schrei hinunter, denn als wir uns umdrehten, um nachzusehen, wer es war, erhaschten wir einen Blick auf den Paketboten – helle blaue Augen, eine lange Nase, strubbeliger Pony. Er legte den Finger an die Lippen und zog uns ein paar Meter den Flur hinter sich her, um uns dann durch eine halb offene Tür zu stoßen.
Wir standen in einer Art Abstellraum, umgeben von Regalen voller Putzmittel, eingeklemmt zwischen einem Mopp in der einen Ecken und einem Besen in der anderen. Alles roch komisch.
»Wir haben nicht viel Zeit«, flüsterte der Paketbote. Er beugte sich zu uns und schien nicht zu bemerken, wie Addie zurückwich und beinah eine Flasche Glasreiniger umgeworfen hätte. Das einzige Licht kam von einer Stiftlampe, die er anknipste, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Addie?«
»Ich höre«, sagte Addie. Sie kniff die Augen gegen das Licht zusammen, das uns
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