Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
schrie. Ich machte einen Satz nach hinten, der mich mit Ryan zusammenprallen ließ. Er fasste mich einen Moment am Handgelenk, um mir Halt zu geben. Dann musste ich mich wieder von ihm lösen, damit ich mich Jaime nähern konnte.
»Sch, sch«, machte ich und streckte eine Hand nach ihm aus. »Ich bin es nur. Erinnerst du dich an mich? Ich war vorgestern hier. Wir haben uns durch die Sprechanlage unterhalten.«
Er nickte weder noch schüttelte er den Kopf. Er sagte nichts. Aber in seinen Augen schien so etwas wie ein Wiedererkennen aufzublitzen.
»Kannst du aufstehen, Jaime?«, fragte ich. »Wir werden dich hier rausschaffen. Wir gehen nach oben, okay? Vertrau mir, Jaime.«
Er nickte, stieß die Decken beiseite und schob langsam seine Beine aus dem Bett, bis sie über die Kante baumelten. Er schaffte es, alleine aufzustehen, aber er schwankte, und ich wollte gerade nach seinem Arm greifen, als Ryan ihn stattdessen packte. Jaime guckte überrascht und Ryan nickte ihm zu.
Als Antwort schenkte Jaime ihm ein schiefes Grinsen. Er kam mir kleiner vor, jetzt, da ich ihn mir genauer ansehen konnte – er war wirklich klein, mit einem Schopf aus lockigem dunkelbraunem Haar und gräulicher Haut. Extrem dünn. Und er hatte diese lange, rund verlaufende Operationsnarbe.
Ich schloss gerade Jaimes Tür hinter uns, als wir die Schreie hörten.
Ryan drückte Jaime an die Wand des Flures. »Warte hier …«
Ich rannte bereits, sauste wie der Blitz an ihm vorbei.
Lissa schrie erneut, und dieses Mal war ein Wort in dem Entsetzen. Sie schrie nach ihrem Bruder. Ich schoss um die Ecke, flog den Flur hinunter. Vor mir konnte ich einen Lichtschimmer erkennen. Keine gelbe Notbeleuchtung, sondern grelle Neonlichter. Die Sorte, die sonst die Flure der Klinik erleuchteten.
Als ich um die nächste Ecke bog, fand ich mich in einem strahlend weißen Gang wieder, alles leuchtete beinah blendend hell. Nur eine Tür stand offen und die Schreie kamen aus dem Inneren dieses Zimmers. Ich stürzte hinein, Ryan nur einen Schritt hinter mir.
Ein Wachmann mit dem Rücken zu uns, die Arme weit ausgebreitet. Zwei Krankenschwestern, eine hielt eine Spritze, beide trugen Handschuhe. Ein Mädchen, das um sich trat und schrie und schrie und schrie und …
Ryan warf sich nach vorn. Ich stürzte hinter ihm her. Er stieß den Wachmann aus dem Weg – kräftig. Der Mann wurde gegen die Wand geschleudert. Die Krankenschwestern sahen mit schneeweißem Gesicht und weit aufgerissenen Augen hoch. Lissas Brille war auf den Boden gefallen, die weißen Strasssteine funkelten im Licht der Lampen.
Ryan und ich erreichten die Krankenschwestern beinah gleichzeitig – er schnappte sich die Schwester, die immer noch Lissa festhielt; die andere, diejenige mit der Spritze, war bereits einen Schritt nach hinten gestolpert. Ich packte Lissas Arm. Wir rissen die beiden auseinander.
Der Wachmann hatte sich wieder aufgerappelt. Ich spürte, wie seine Hand sich um meine Schulter legte, und ohne nachzudenken, ohne auch nur im Geringsten nachzudenken, schmetterte ich ihm unseren Fuß gegen das Knie. Er grunzte. Ich rammte ihm unseren Ellbogen ins Gesicht, und das, das brachte ihn dazu, loszulassen. Blut floss. Es floss Blut und er stieß schockierte, schmerzerfüllte Flüche aus. Eine der Krankenschwestern versuchte, sich Lissa wieder zu schnappen. Ich sah die Spritze aufblitzen und dann schlug Ryan sie ihr aus der Hand. Sein Schuh trampelte darauf herum, brach beinah die Nadel ab und verbog sie dermaßen, dass sie nicht mehr zu gebrauchen war. Er machte einen Satz nach vorn, um sich Lissas Brille vom Boden zu schnappen. Dann warf er sie ihr zu. Sie setzte sie auf. Und da standen wir, wir drei, wir sechs, mitten im Zimmer, umringt von den Krankenschwestern und dem keuchenden Wachmann. Schweiß glitzerte auf bleicher Haut. Der Wachmann hatte seine Hand von der Nase genommen, Blut tropfte auf seine Lippe. Bei diesem Anblick drehte sich uns der Magen um, aber wir konnten jetzt nicht darüber nachdenken. Wir mussten immer noch kämpfen. Wir mussten uns an ihnen vorbei und zur Tür hinauskämpfen und dann rennen, rennen, rennen.
Die Tür. Wenn wir es bis zur Tür schafften …
Einen Augenblick lang, nur einen Augenblick – eine Millisekunde – waren alle vollkommen reglos. Eine Sekunde. Ein Schnappschuss aus Angst und Schweiß und Blut.
Dann heulte die Sirene los.
Sie lenkte alle einen Moment lang ab – alle außer mich.
Ich schnappte mir Lissas Handgelenk. Ryan und ich
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