Twin Souls - Die Verbotene: Band 1
Blut, das ihnen ins Gesicht geschrieben stand. Beide waren ungeheuer gut darin, so zu tun, als fiele es ihnen nicht auf.
»Ich wusste gar nicht, dass du malst«, sagte Hally und lief voraus.
Addie beschleunigt unsere Schritte, um mitzuhalten. Ryan schien zufrieden damit, uns vorweggehen zu lassen. »Oh. Ich … ich male nicht mehr so viel wie früher. Als ich noch jünger war.«
»Wieso hast du aufgehört?«, fragte Ryan. Also hatte er ihnen doch zugehört. Da Addie in die andere Richtung guckte, konnte ich nicht sicher sein, ob er uns beobachtet hatte.
Unser T-Shirt war am Saum etwas zerknittert. Addie strich es glatt. »Eigentlich gibt es keinen Grund dafür. Ich hatte zu viel andere Dinge zu tun.«
Sie war zu gut geworden. Sie hatte zwei Wettbewerbe gewonnen, bevor wir zwölf geworden waren, bevor uns bewusst geworden war, dass Gewinnen Aufmerksamkeit bedeutete, und Aufmerksamkeit war etwas, das wir niemals auf uns ziehen durften. Wenn Aufmerksamkeit lange genug auf etwas Unvollkommenes gerichtet war, würde die Unvollkommenheit auf jeden Fall zu Tage kommen, egal wie geringfügig sie war. Und unsere war keineswegs geringfügig.
Addie zeichnete nach wie vor, aber eher für sich. Wenn es jemand sah, selbst unsere Eltern, machten sie immer großes Aufheben darum und luden andere Leute ein, sich die Bilder anzusehen. Und früher oder später würde jemand fragen, wieso wir nicht an einem Wettbewerb teilnahmen. Sie malte nichts Großformatiges mehr. Es war schwerer zu verbergen. Und überhaupt, Leinwände waren teuer.
Die Straße mit Hally entlangzuschlendern dauerte doppelt so lange, wie sie allein entlangzugehen. Hally wurde von jedem zweiten Schaufenster wie magisch angezogen, war von jeder Kleinigkeit und jeder Stoffbahn fasziniert, jedem glitzernden Schmuckstück oder einem klug gemachten Spielzeug. Als sie das vierte oder fünfte Mal verlangte, wir sollten haltmachen, hörte Addie auf, ihr in die Läden zu folgen, und wartete einfach draußen mit Ryan, der dies alles aus irgendeinem Grund kommentarlos ertrug. Addie brannte schier vor Verlangen, auf direktem Weg zu dem Laden mit Künstlerbedarf zu marschieren und endlich ihre Einkäufe zu erledigen.
‹Wir haben noch massenweise Zeit›, sagte ich in dem Versuch, sie zu beruhigen, als Ryan einwarf: »Eva kann inzwischen ihre Hände bewegen. Hat sie dir das erzählt?«
Ihre Hände. Nicht eure Hände, sondern ihre Hände. Meine Hände. Natürlich war es sicherer, ihre Hände zu sagen, falls uns jemand zuhörte, aber trotzdem breitete sich in mir eine wohlige Wärme aus.
»Nein«, erwiderte Addie.
Er lächelte. »Nicht immer, aber manchmal. Und wir arbeiten daran, dass sie mehr spricht. Es ist schön mit …« Er stockte, dann lachte er ein bisschen, ehe er sagte: »Ich meine, ich bin sicher, sie ist es leid, mich in einer Tour reden zu hören. Und sie muss der Welt so viel zu sagen haben …«
Er sah uns an, schien mich direkt anzusehen, und ich sagte ‹Ja›, bevor ich wusste, was ich tat, bevor ich mir in Erinnerung rufen konnte, dass ich nicht auf seiner Wohnzimmercouch lag, dass Addie nicht schlief. Sie erstarrte.
»Und …«
»Hör zu, wir sollten nicht darüber reden«, sagte Addie. »Nicht hier.« Sie holte schnell und flach Luft. »Und hör auf, über sie zu reden, als wäre sie ein Baby. Als wäre es ein unfassbar großes Wunder, dass sie eine Faust ballen und ein paar Worte ausspucken kann.«
Ryan blinzelte. »Das habe ich damit doch gar nicht gemeint …«
»Und sie hat tatsächlich eine Menge zu sagen. Ich weiß es, weil sie es mir sagt.«
Sie schob sich an ihm vorbei in den Laden, wo Hally die junge Verkäuferin gerade dazu brachte, eine übertrieben verzierte Uhr vom höchsten Regalbrett zu holen.
‹Du weißt, dass er es nicht auf diese Weise gemeint hat›, sagte ich.
‹Dann sollte er seine Worte sorgfältiger wählen.›
Hally lächelte uns an, als Addie langsam näher kam. Im nächsten Moment blickte sie über unsere Schulter und ihr Lächeln wurde eine Idee schwächer. »Ist etwas passiert?« , fragte sie. Jedenfalls setzte sie an zu fragen, denn genau in dem Moment, als die Worte ihren Mund verließen, wurden sie von Sirenengeheul übertönt.
Das erste Polizeiauto raste vorbei, noch ehe Addie das Geschäft verlassen hatte. Es war so schnell, dass uns die Haare ins Gesicht gepeitscht wurden. Ein zweites Auto folgte kurz dahinter. Überall auf der Straße wurden Gespräche unterbrochen, als das Geheul der Sirenen den
Weitere Kostenlose Bücher