Über Boxen
Quintessenz.
Früher – bis weit in die Fünfzigerjahre hinein – war es nicht üblich, dass sich der Ringrichter in einen Kampf einschaltete, er mochte so brutal und einseitig sein, wie er wollte. Ein Boxer, der versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, nachdem er zu Boden geschlagen war, oder der, wie der unnachgiebige Jake LaMotta in seinem sechsten, letzten Kampf 1951 gegen Sugar Ray Robinson, sich schlicht weigerte, zu Boden zu gehen, obwohl er gar nicht mehr fähig war, sich zu wehren, und zu einer Art menschlichem Sandsack geworden war, wurde seinem Schicksal überlassen. Die Menge will jedenfalls meist, dass ein Boxer den anderen total und unwiderruflich schlägt – und dieser Wille war Befehl. So kam es zu den blutigen «großen» Kämpfen der Boxgeschichte – zum Beispiel Dempseys Triumph über Willard –, Kämpfe, die heute unvorstellbar wären.
Es ist wichtig zu wissen, dass «boxen» und «kämpfen», obwohl in den größten Boxern beides zusammenkommt, zwei völlig verschiedene Dinge sein können. Amateurboxer werden trainiert, nach Punkten zu siegen. Professionelle Boxer versuchen gewöhnlich, K.-o.-Siege zu erreichen. (Das heißt nicht, dass professionelle Boxer gewalttätiger sind als Amateurboxer, aber sicher ist sicher – und ein K.-o.-Sieg ist publikumswirksamer.) Boxen verlangt häufig, vor allem in den leichteren Gewichtsklassen, ein sehr komplexes und differenziertes Können und kann somit ein äußerst zivilisierter Sport sein; das Kämpfen aber gehört einer unzivilisierten Zeit an, in ihm kommt ein Instinkt zum Vorschein, der nicht nur auf Verteidigung aus ist – und man fragt sich, ob sich das männliche Ego je mit einer derartig harmlosen Erwiderung auf eine Bedrohung zufriedengegeben hat –, sondern der den anderen angreifen und in vollständige Unterwerfung zwingen will. Daher der elektrisierende Effekt, den es auf den typischen Zuschauer hat, wenn das Boxen plötzlich zum Kampf wird – wenn ein Boxer zu bluten anfängt und die Sache eine qualitativ andere Dimension bekommt, gefährlich wird. Blut ist für viele Zuschauer der Beweis, dass der Kampf echt ist, und Boxer sind zu Recht stolz auf ihre Narben.
Während das, was man die «Gewalttätigkeit» des Boxens nennt, häufig von den Zuschauermassen her auf den Ring übergreift, eine Art übersteigertes Massendelirium – das vor dem Fernsehschirm übrigens selten zu spüren ist –, haben wir die ebenso häufige Verhinderung von Gewalt und die Raffinesse eines Boxkampfs dem «dritten Mann im Ring» zu verdanken. Er bildet das Gegengewicht zu der urtümlichen Welle von Emotionen, die gegen die schützenden Seile des Rings brandet: Er ist, wie gesagt, unser Gewissen, für die Dauer des Kampfes vertritt er es, und er hat absolute Autorität.
Ob ich durch diesen Job zum Humanisten oder zum
Voyeur werde, ist schwer zu sagen.
John Schulian, Sportreporter
Schriftsteller fanden das Boxen schon immer attraktiv, schon in den Tagen des englischen Prize Ring . Seine unmittelbarste Anziehungskraft rührt wohl daher, dass es ein Schauspiel ohne Worte ist, sprachlos, dass es andere braucht, die es in Worte fassen, die seine Triumphe besingen, es vervollkommnen. Wie alle extremen Taten der Menschheit, die der Vergessenheit anheimfallen, spricht das Boxen nicht nur die Vorstellungskraft des Schriftstellers an, es appelliert an seinen Instinkt, Zeuge zu sein. In den Zeiten, in denen es keine Filme und Tonbänder gab, war dieser Instinkt vermutlich noch stärker. (Man braucht sich nur einmal vorzustellen: ein Sport, der sich oftmals außerhalb jeglicher Legalität abspielte, dessen spektakulärste Kämpfe häufig auf Schiffen oder Inseln stattfanden und damit der Gerichtsbarkeit der einzelnen Staaten entzogen waren, Boxer und Zuschauer riskierten Verhaftungen; kurzum, das machte nur mit, wer diesem Sport leidenschaftlich ergeben war.) Und das trifft für Boxer im Ring und außerhalb des Rings meist zu: Sie sind Charaktere im Wortsinn, sie sind Fiktionen, extravagant, ohne feste Struktur .
In den Tagen des Prize Ring wurden Kampfreportagen, oft in Versen und begleitet von Bildern, in Form von Bilderbögen durch reisende Händler verkauft. Ab 1700 brachten aber – wie der Historiker des Boxsports, Pierce Egan, festgestellt hat – die meisten englischen Zeitungen, sogar die vornehme «Times», eine detaillierte Berichterstattung der Kämpfe. Und 1812 erschien die erste Ausgabe von Egans berühmter «Boxiana, or, Sketches of
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