Ueber Deutschland
Deutschland, wo man fast einsam lebt, will man, daß das Werk Gesellschaft leiste: aber in welchen geselligen Verkehr der Seele kann man wohl mit einem Buche treten, welches selbst nur der Wiederhall der Gesellschaft ist? In der Stille der Abgeschiedenheit erscheint nichts trauriger, als der Geist der Weltlichkeit. Der Mensch in der Einsamkeit bedarf einer Anregung des Innern, um die äußere Bewegung zu ersetzen, die ihm mangelt.
Klarheit gilt in Frankreich für eins der hauptsächlichsten schriftstellerischen Verdienste: es kommt vor allen Dingen darauf an, daß man bei einem Werke keine Mühe nöthig habe, und bei der Morgenlectüre aufhasche, womit man Abends in der Gesellschaft glänzen kann. Die Deutschen sehen dagegen ein, daß Klarheit immer nur ein relatives Verdienst, und ein Buch bloß klar genannt werden kann, in Beziehung seines Inhalts und seiner Leser. Montesquieu ist nicht so leicht verständlich als Voltaire, und dessen ungeachtet ist er so lichtvoll, als der Gegenstand seiner Untersuchungen es gestattet. Allerdings ist es notwendig, Licht in die Tiefe zu bringen; aber wer sich bloß an die Grazien des Verstandes, oder an ein Spiel mit Worten hält, kann viel sicherer darauf rechnen, verstanden zu werden; wer keinem Mysterium nahe tritt, wie könnte der dunkel seyn? Die Deutschen, gerade auf die entgegengesetzte Weise fehlend, gefallen sich in Dunkelheiten: oft hüllen sie, was klar am Tage lag, in Nacht, bloß um den geraden Weg zu meiden; sie haben einen solchen Widerwillen gegen gewöhnliche Gedanken, daß, wenn sie sich genöthigt sehn, sie niederzuschreiben, sie sie mit einer abstracten Metaphysik umgeben, die sie neu scheinen läßt, bis man sie erkennt. Die deutschen Schriftsteller geniren sich nicht mit ihren Lesern; da ihre Werke wie Orakelsprüche aufgenommen und ausgelegt werden, so können sie sie in so viel Wolken hüllen, als ihnen gefällt; die Geduld, dieses Gewölk zu zerstreuen, fehlt niemals, aber am Ende muß sich dahinter doch eine Gottheit zeigen, denn, was die Deutschen am wenigsten dulden, ist getäuschte Erwartung: ihre Anstrengung und Ausdauer machen ihnen große Resultate zum Bedürfniß. Sind in einem deutschen Werke nicht starke und neue Gedanken, so wird es bald der Verachtung preis gegeben, und wenn das Talent auch alles verzeihlich macht, so haben in Deutschland die verschiedenartigen Künste, durch die man Talent zu ersetzen sucht, keinen Werth.
Die Prosa wird bei den Deutschen häufig zu sehr vernachläßiget. Man legt in Frankreich viel größeres Gewicht auf den Stil, als in Deutschland: eine natürliche Folge des Interesses, das man am Sprechen nimmt, und das dieses für ein Land haben muß, wo die Geselligkeit allein herrscht. Es ist nur ein wenig Verstand nöthig, um über die Richtigkeit oder Schicklichkeit einer Phrase zu urtheilen, aber viel Aufmerksamkeit und Studium, um das Ganze und den innern Zusammenhang eines Werks zu fassen. Ferner geben einzelne Ausdrücke einen viel reicheren Stoff zum Spotte, als Gedanken, und bei allem was Worte betrifft, lacht man, bevor man nachdenkt. Doch läßt sich nicht läugnen, daß die Schönheit des Stils keinesweges ein bloß äußerlicher Vorzug ist: denn wahre Empfindungen geben fast immer die edelsten und richtigsten Ausdrücke ein, und wenn man gegen den Stil eines philosophischen Werks nachsichtig seyn darf, so hat ein Werk der schönen Künste nicht gleichen Anspruch; in dieser Sphäre gehört die Form eben so wohl der Seele an, als der Inhalt.
Die dramatische Kunst bietet ein auffallendes Beispiel der bestimmten Eigenschaften beider Völker dar. Was Handlung, Intrigue, Interesse der Gegebenheiten betrifft, das verstehen die Franzosen tausendfach besser aufzufassen und zu verbinden; die Entwickelung von Herzens-Eindrücken, und die geheimen Stürme starker Leidenschaften werden dagegen von den Deutschen viel tiefer ergründet. Wenn die vorzüglichen Menschen beider Länder den höchsten Grad der Vollkommenheit erreichen sollten, müßten die Franzosen religiös, die Deutschen ein wenig weltlich werden. Die Frömmigkeit arbeitet der Seelen-Zerstreuung entgegen, die zu gleicher Zeit der Hauptfehler und das Angenehmste der Franzosen ist, und die Kenntniß der Menschen und der Gesellschaft würde den Deutschen in literarischer Hinsicht den Geschmack und die Gewandtheit, die ihnen mangelt, geben. Die Schriftsteller beider Länder sind ungerecht gegen einander, die Franzosen jedoch schuldiger in dieser Hinsicht als
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