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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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einem scharfen Gegenstand. Im Schrank zwischen der Seife, den Wattestäbchen und den halbausgedrückten Tuben fand er eine Schere. Er versuchte, den Riss zu vergrößern.
    Vielleicht konnten sie nicht heraus, dachte er. Die Kacheln waren hart, gaben nicht nach. Nur ein kleines Fugenstückchen bröckelte heraus.
    Das Kratzen der Schere an der rauen Kante der geplatzten Kachel hallte schwach und trostlos durch das kalte Badezimmer. Petru hielt mit der Arbeit inne und starrte lange den Riss an, der nicht den geringsten Hinweis darauf gab, dass sich hinter der Kachel noch etwas anderes befand als eine alte Backsteinmauer. Auf dem Boden lag eine dünne Kalkschicht. Petru machte mit dem großen Zeh einen Abdruck darin.
    Sie waren nicht da.
    Mit der Größe des Risses hatte das nichts zu tun. Er wusste, dass Bunicâlis sich nicht davon abschrecken ließen, wenn es keine Schlitze, Ritze und Lücken in Wänden und Böden gab.
    Sogar in perfekt glatten und nigelnagelneuen Badezimmern würden sie ein Versteck finden. Nicht, dass Petru je in einem solchen nigelnagelneuen Badezimmer gewesen wäre, aber er wusste es einfach.
    Sie würden ihm überallhin folgen. Sie waren immer mit ihm gereist. Wohin auch immer er seine Eltern begleitete, sie folgten ihm. Doch jetzt blieben sie fern.
    Vielleicht hatten sie noch nicht mitbekommen, dass er wieder umgezogen war, dachte er verzweifelt.
    Er beschloss, nicht länger zu warten. Morgen würde er sie holen. Morgen würde er den Bus in die große Stadt nehmen, in die Wohnung zurückkehren, aus der sie zwei Wochen zuvor ausgezogen waren.
    Sein Vater hatte gelacht, als Petru ihn gefragt hatte, ob dies nun ihr Haus für immer sei.
    »Nichts, aber auch wirklich gar nichts ist für immer«, antwortete sein Vater und ließ sich auf das geblümte Sofa fallen.
    Es war das erste Mal gewesen, dass sie sich in einer Straße mit lauter leerstehenden Häusern eins hatten aussuchen können. Anfangs schienen seine Eltern etwas ziellos herumzuirren, aber dann fanden sie doch etwas. Ein Haus mit einem großen Fenster, das von einem zierlichen Vorhang zu einem Bogen eingefasst wurde, durch den sie hineinschauen konnten.
    Hinter dem Fenster war schön in der Mitte der Fensterbank ein Blumentopf platziert, mit den Überbleibseln von dem, was einmal eine üppig wuchernde Grünpflanze gewesen sein musste. Das Wohnzimmer war mit viel zu großen geblümten Sofas in einem undefinierbaren Farbton bestückt, die einladend wirkten, so als wäre es schon viel zu lange her, seit sich ein Bewohner auf ihnen unbefangen ausgestreckt und die Beine auf die Glasplatte des Sofatischs gelegt hatte.
    Monty war mit seinem Vater in dem Pulk vorangelaufen, schnurstracks auf das breiteste Haus zu, eines der wenigen mit einem Vorgarten. Petru und sein Vater sahen sich vielsagend an.
    So waren sie nun mal, die beiden.
    Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Der einzige Unterschied zwischen Monty und seinem Vater bestand darin, dass Letzterer einen dicken Bauch hatte, der seine ungezügelte Gier unterstrich. Monty war vorläufig noch hochgeschossen und spindeldürr. Aber auch er würde die ganze Welt verschlingen, wenn er könnte, ohne dass sein Hunger gestillt oder sein Körper weniger kantig und lang geworden wäre.
    Die Kinder hatten es spannend gefunden, in ein Dorf ohne Bewohner zu ziehen. Jeder konnte spüren, dass es hier noch Sachen zu entdecken gab.
    Man hatte den Eindruck, als wären die ursprünglichen Bewohner Hals über Kopf aufgebrochen. Die Älteren schüttelten ungläubig den Kopf. Wie konnte es nur möglich sein, dass man schöne und stabile Häuser, die meisten von ihnen noch möbliert, manche sogar mit Vorgarten, einfach so in gepflegten Straßen zurückließ?
    »Dieses Dorf wurde speziell für uns errichtet.«
    Petrus Mutter wies seinen Vater zurecht. »Lass das, und erzähl dem Jungen nicht solche Geschichten! Es liegt an dem Hafen, Petru. Sie machen Platz für den Hafen«, sagte sie.
    Ein paar Tage darauf sollte Monty ihm verschwörerisch anvertrauen, das Gerücht ginge um, unter dem Dorf wohnten furchtbare Wesen. Grauenhafte Monster streiften durch die Kanäle und Gänge, die kreuz und quer unter dem Dorf hindurch verliefen.
    Gestalten, die sich bei Vollmond durch die Kanalrohre und Abflüsse bewegten, um sowohl in den Küchen als auch in den Badezimmern nach oben zu kommen, auf der Suche nach warmem, süßem Menschenfleisch. Insbesondere dieser Teil des Dorfes, der Teil, den sie gerade bezogen hatten, würde von

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