Ueber Gott und die Welt
Barockkirchen, die ich vor allem bei den Besuchen bei meiner Großmutter auf der Schwäbischen Alb kennen lernte. Aber eines Tages entdeckte ich, dass einige Barockfiguren im Altarraum nur eine Vorderseite hatten. Sie waren ausgehöhlt. Das stieß mich ab. Der lebendige Eindruck der Statue war eben nur eine vom Künstler in mir hervorgerufene Impression, der keine Wirklichkeit entsprach, ähnlich wie die marmorierten Säulen in den Barockkirchen, die den Eindruck von echtem Marmor erzeugen sollen. Ich spürte den Anfang einer virtuellen Welt.
Meine frühe Liebe zur modernen abstrakten Kunst hing mit der Abneigung gegen die Simulation zusammen, gegen die Erzeugung von Schein, in dem sich kein Selbst-Sein offenbart. Ich verstand Platons Kritik der Malerei lange bevor ich von ihr gehört hatte. Aber ich begann den Geist zu lieben, aus dem die fast unsichtbar entfernten Skulpturen auf und an den Türmen unserer Kathedralen geschaffen wurden, denselben Geist, aus dem, wie Charles Péguy sagte, immer noch ein Stuhlbein gemacht wird.
Ein verwandtes Missbehagen schlich sich bei mir ein, alsmein Nürnberger Onkel mir seine Stadt vor ihrer Zerstörung zeigte, das sich selbst zu musealisieren begann. Kleine unmerkliche Änderungen dieser Art schienen mir eine neue Welt anzukündigen. Ich war noch klein, aber es war nicht meine Welt.
Noch zwei Beispiele für den mich bedrückenden Einbruch der virtuellen Welt und der schleichenden Virtualisierung der realen stammen aus der katholischen Liturgie, und zwar wähle ich die Beispiele absichtlich nicht aus der neuen, reformierten Liturgie, sondern aus der Feier der alten.
Es war kurz nach der Erneuerung der Osternacht durch Papst Pius XII. Im Münsteraner Dom zelebrierte der Dompropst die Zeremonien der Feuerweihe vor dem Tor des Doms und des feierlichen Einzugs der Osterkerze in die Kirche. Ich war mit vielen Gläubigen in der Kirche geblieben und erwartete in der Stille des dunklen Kirchenschiffs den Einzug mit dem dreimaligen Gesang des
Lumen Christi
.
Aber die Stille wurde beendet durch einen Lautsprecher, der die Gebete des Priesters am Feuer draußen in den Innenraum übertrug. Ich war schockiert und schrieb dem Dompropst, dass es in dieser Zeremonie eben ein Drinnen und ein Draußen gibt und dass es dem Geist der Liturgie ganz zuwider sei, räumliche Unterschiede, die zugleich symbolischen Charakter haben, durch einen Lautsprecher zum Verschwinden zu bringen. Es sei auch überhaupt nicht nötig, dass jeder alles, was irgendwo im Rahmen der Liturgie gesprochen wird, auch am anderen Ende des Gotteshauses lückenlos hört. Der Propst, der berühmte Domprediger Donders, eine verehrungswürdige Gestalt, antwortete mir, mein Einwand habe ihn überzeugt und er werde künftig den Einsatz des Mikrophons während dieser Feier unterlassen. (Wie heutzutage eine Antwort auf eine solche Frage lauten würde, könnte ich ziemlich genau formulieren.)
Später, in Stuttgart, ebenfalls in einer Osternacht, wartete der Zelebrant, der mit uns befreundete Pfarrer Hermann Breucha, nach der Feuerweihe mehrere Minuten mit dem Einzug in die Kirche. Warum? Breucha war auch Rundfunkpfarrer. Der Gottesdienst wurde im Rundfunk übertragen, aber die Installationen für die Sendung hatten sich um Minuten verzögert. Ich tadelte das mit der Begründung, dass es an sich schon problematisch sei, die Feier der Mysterien im Rundfunk zu übertragen. Unerträglich aber erscheint es mir, wenn der Ablauf der Liturgie sich in irgendeiner Weise nach den Erfordernissen ihrer Außendarstellung richtete. Auch hier fand ich übrigens volle Zustimmung. Breucha fühlte sich in jener Nacht selbst überrumpelt.
Was hat das alles mit der Zuwendung zum philosophischen Leben zu tun? Worum es mir in der Philosophie geht, ist etwas ganz Elementares: die Verteidigung von Selbst-Sein, Selbst-Sein mit eigenem »Aus-Sein-auf«. Und es geht um die Unterscheidung von Sein und Schein, von Wirklichkeit als Selbstsein und Simulation. Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Gibt es so etwas wie Selbstsein? Was unterscheidet das Sein einer Fledermaus vom Sein eines Autos? Das Auto ist, was es ist, nur für uns. Die Fledermaus ist »selbst« etwas: Es ist irgendwie, eine Fledermaus zu sein. Es ist nicht irgendwie, ein Auto zu sein, es ist nur irgendwie, ein Auto zu fahren: Kunst simuliert gerade das Nicht-Simulieren. Im sakramentalen Ritus konstituiert sich durch performative Handlungen das Symbolische – nicht Simulierte!
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