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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mir ein, der schon lange tot war; er hatte einen goldfarbenen Schlafrock getragen. Ich suchte vergeblich nach dem Namen des Mannes.
    Auf dem Bildschirm sah ich eine Graphik, die den Zugweg der Stare, Singdrosseln, Kraniche, Kuckucke und Störche miteinander verglich. Es folgten Bilder von schwarzen Vögeln am Abendhimmel; erst in den Nahaufnahmen erkannte ich die Stare mit ihrem violett, grün und bronzefarben schillernden Gefieder. Dieser Glanz, hatte mir mein Onkel in Vicenza einmal erklärt, entstehe durch Abnutzung, wie bei alten Hosen und Jacken. Das Schlichtkleid nach der Mauserung sei wesentlich heller und mit Punkten übersät. Damals hatte ich meinen Onkel mehrere Male in den Centro rapaci begleiten dürfen, zehn Kilometer außerhalb der Stadt, wo sein Freund in großen Volieren mitten im Wald Geier, Sperber, Nachteulen und Falken pflegte, die angefahren oder aus anderen Gründen verletzt worden waren.
    Ich dachte an den Weg hinaus aus der Stadt, vorbei an der Villa Rotonda, weiter durch das kleine Tal zwischen den Berischen Hügeln bis zum Lago Fimon, auf dessen Steg wir einen regungslos verharrenden Kormoran entdeckt hatten. «Er ist ausgestopft», hatte mich mein Onkel geneckt. Später erfuhren wir von Alberto, der das Vogelzentrum betreute, daß der Kormoran nicht mehr fliegen konnte, sein Gnadenbrot aus dem kleinen See bezog. Alberto hatte mir damals versprochen, daß ich nachmittageweise im Centro helfen dürfe, sobald ich die Mittelschule abgeschlossen hätte. Aber Mutter wollte weg; einen Tag nachdem mir das Abschlußzeugnis ausgehändigt worden war, übersiedelten wir nach Bozen.
    Ich schaltete den Fernseher aus, betrachtete meine Hände, das kaum sichtbare Geflecht der Adern unter der Haut.
    Vittorio zog die Kühlschranktür auf, er nahm die nächste Bierflasche heraus, stieß mit der Flasche gegen die Plastikverschalung. Gleich darauf schaltete sich der Motor ein. Ich lauschte. Zwei Körper in einer Wohnung, und keiner bewegte sich.
    Minuten vergingen, mehr. Als es klingelte, ging keiner ans Telephon. Ich drückte die Augen zu, bis das Dunkel von gelben und orangefarbenen Wolken überzogen war. Je heftiger ich drückte, desto kräftiger wurden die Farben.
    War Vittorio weggegangen? In Gedanken sah ich ihn zur Tür hereinkommen; er umfaßte mein Gesicht mit beiden Händen, betrachtete mich forschend, angstlos.
    Als der Bademantel auseinanderfiel, erschrak ich über die plötzliche Bewegung an meinem Körper, über das Rascheln des Stoffes. Da war nichts. Langsam erhob ich mich, ging in die Küche. Sie war leer. Auf der Anrichte standen die ausgetrunkenen Bierflaschen.
    Â«Vittorio», sagte ich leise.

XVIII
    Davide schlief, auch die anderen Fluggäste dösten oder schwiegen. Warum sollte es in einem Flugzeug anders sein, dachte Irma, man schweigt auch in Bussen, U-Bahnen und Zügen. Einmal stand die Frau neben ihr auf, die Buchten, Schattenzüge in der Leistengegend strafften sich, weil sie mehrmals mit der flachen Hand über den Stoff strich. Sie schien mit geschlossenen Füßen zu gehen, so eng war ihr Rock.
    Auf dem Bildschirm liefen Kurzfilme: Drei Männer fuhren mit dem Fahrrad durch eine winterliche Landschaft, fielen kopfüber in den Schlamm, rappelten sich auf, radelten weiter, um wenig später in einen Fluß zu stürzen; sie behinderten sich gegenseitig, verhedderten sich in ihren Rädern, rutschten ab. Irma fragte sich, ob die Darstellung von derlei Mißgeschicken dazu diente, die Reisenden abzulenken, ihnen die Flugangst zu nehmen. Wenig später wurden Unterwasseraufnahmen gezeigt, Meeresgetier, Fischschwärme, Delphine; da sich das Flugzeug über dem Adriatischen Meer befand, erschienen Irma die Aufnahmen wie eine Vorwegnahme des Absturzortes. Beruhigend dann die eingeblendete europäische Landkarte, der rote Pfeil, der bei −35 Grad und 766 km/h zwischen Rimini und Ancona das Festland berührte und über die Abbruzzen und Perugia auf Rom zusteuerte.
    Als die Fremde von der Toilette zurückkam, sah Irma zum ersten Mal ihr Gesicht, vergaß es aber gleich wieder, nachdem die Frau Platz genommen hatte. Auf neuntausend Metern gibt es kaum Unterschiede, dachte Irma, stürzen wir ab, ereilt uns alle dasselbe Schicksal. Die Frau trug Schwarz; vielleicht wollte sie nicht auffallen.
    Die Europakarte verschwand wieder; Rochen, Quappen und Aale bewegten sich

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