Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
ihre Rückkehr an die Macht anmahnten. Gewiß, es störte viele, daß Hehler der Naziverbrecher wieder in Amt und Würden waren. Doch deswegen kämpfen, den gerade wieder errungenen Wohlstand aufs Spiel setzen? Wo doch ihr Leben, ihr Staat nicht in Gefahr war? So oder ähnlich dachten sie wohl, so oder ähnlich lebten sie.
Ich aber hatte nie geschwiegen, hatte angeprangert, hatte erinnert. Bilder wiederaufleben lassen, Bilder des Grauens, Bilder des Schreckens, Bilder der Todesnot. Sie lebten in mir, quasi auf Abruf. Sie auszuwischen gelang mir nie. Das unterschied mich von ihnen.
„Israel, das ist doch ein Traum!“ Die Augen der Damen leuchteten auf. „Ein so schönes Land, ein so gutes Klima!“ Die Damen nickten in Übereinstimmung. Die meisten hatten Israel schon einmal bereist, oft mit dem Gatten, der aus beruflichen Gründen dorthin entsandt worden war. Oder sie machten Besuch bei ihren Kindern, von denen so einige seinerzeit der Traum von einem Leben in der Gemeinschaft eines Kibbuzes dorthin gelockt hatte. So versuchten die Damen mir ihr Verständnis für meine Entscheidung zu beweisen. Und überdies sei ich doch dort „unter meinen Leuten“, fügte eine der Damen liebenswürdig hinzu. Was sie wohl damit meinte? Ich fragte nicht danach. Die anderen Damen versenkten ihren Blick in ihre Becher, die ich schnell füllte, um die Peinlichkeit zu überbrücken.
Psychogramm eines Volkes
Denn ihrer war die Hölle. Kinder in Ghettos und Lagern
Viele Monate der Jahre 1964/65 war ich, als Vertreterin der israelischen Zeitung „Maariv“, bei den Verhandlungen des Frankfurter Schwurgerichtes zugegen, das eine gerichtliche Sühne für die im Vernichtungslager Auschwitz begangenen Verbrechen zu suchen hatte. Während die 20 Angeklagten, ehemalige Mitglieder der Auschwitzer Mordmaschinerie, mit allen erdenklichen Ausflüchten die meisten der ihnen zur Last gelegten Verbrechen bestritten, schilderten über 300 Zeugen vor Gericht die alltäglichen Vorkommnisse in diesem Vernichtungslager.
Keiner von uns Journalisten, der über einen längeren Zeitraum hinweg im Gerichtssaal von Frankfurt zugegen war, dürfte am Ende dieses Prozesses der gleiche Mensch geblieben, dürfte mit den gleichen Empfindungen, die ein mehr oder weniger normales Leben geprägt haben, in den Alltag zurückgekehrt sein. Wer miterlebte, wie immer wieder ein Zeuge oder eine Zeugin unter der Last der Erinnerung zusammenbrach – der Erinnerung an Geschehnisse, die ein menschliches Gehirn kaum auszudenken vermag und die in Worte zu kleiden nur unzulänglich möglich ist –, der hat vielleicht zum erstenmal erkannt, wie über alle Maßen schwer die Bürde des Erlebten und der Erinnerung sein kann, die mancher mit sich durchs Leben zu tragen hat. Ich weiß, wie viele meiner Kollegen auf der Pressetribüne unter dem Eindruck des Gehörten litten, wie unzulänglich ihnen ihr Wortschatz und ihre Gestaltungskraft erschienen, das wiederzugeben, was sich vor ihnen in diesem Gerichtssaal zutrug. Manche mögen sich – eben aus diesem Gefühl der Unzulänglichkeit heraus – einer Sprache bedient haben, wie sie vielfach zur Schilderung grausamer Einzelverbrechen unserer Tage gebraucht wird, und sie mögen damit der Sache keinen guten Dienst erwiesen haben. Denn dadurch konnte der Eindruck entstehen, als ob es sich bei jenen Menschen, die hier unter Anklage standen, um krankhafte, triebhafte Mörder, um Außenseiter der Gesellschaft handele, die ihrem enthemmten Sadismus freien Lauf gelassen haben; um Einzelfälle also, viele zwar und unvorstellbar schreckliche dazu, aber eben doch um Einzelfälle. Während es gerade das Ungeheuerliche von Auschwitz war, daß dort eine perfekte Mordmaschinerie funktionierte, der nach Aussage des berüchtigten und von den Polen hingerichteten Lagerkommandanten Rudolf Höss zweieinhalb bis vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Eine Maschinerie, die von durchaus normalen, intelligenten und organisatorisch geschulten Menschen erdacht worden war. Die Verbrechen, für die sich die 20 Angeklagten in Frankfurt zu verantworten hatten, stellten vor diesem Hintergrund nur „Beiwerk“ dar, eine vom Ergebnis her betrachtet geringfügige Steigerung der staatlich befohlenen und gelenkten Untaten.
Wenn bei der Berichterstattung über den Prozeßverlauf dieser Aspekt manchmal in den Hintergrund getreten ist, wenn vor dem Einzelfall das System in Vergessenheit zu geraten drohte, dann sicher nur deshalb, weil jeder Berichterstatter aus
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