Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
dem Frankfurter Gerichtssaal auf irgendeine Weise das Herz und das Gemüt seiner Leser und Hörer erreichen wollte – nicht weil es ihm sein Beruf so aufgab, nicht weil es sein täglich Brot ist, sondern weil es ihn drängte hinauszuschreien, zu welchen Ungeheuerlichkeiten sich ein Regime des Terrors versteigen und zu welchen entsetzlichen Grausamkeiten es den Menschen erniedrigen kann. Und jeder Berichterstatter wußte nur zu gut, daß er eine Barriere überwinden mußte – einen Schutzwall, den viele Deutsche um sich errichtet haben, weil sie der Ansicht sind, an diesen Untaten nicht unmittelbar beteiligt gewesen und darum auch nicht für sie verantwortlich zu sein, und weil sie meinen, die Vergangenheit bewältigt zu haben, wenn „endlich der Schlußstrich gezogen“ wird.
Die Geschehnisse von Auschwitz einer israelischen Leserschaft zu schildern, wie es meine Aufgabe war, ist in einer Hinsicht leichter gewesen – zahllose meiner Leser hatten sie selbst durchleben müssen. Andererseits mußte ich versuchen, sie einer jungen Generation vor Augen zu führen, so zu vergegenwärtigen, daß sie begreifen konnte, warum ihre Vorfahren und Angehörigen auf europäischem Boden sich nicht auflehnten, warum sie starben, einfach starben, wie das Gesetz jener Tage es befahl. Ich bin mir nicht darüber im klaren, ob mir das gelang, ob ich dazu beitragen konnte, daß Scham und auch Verachtung, wie sie vielfach unter jungen Israelis anzutreffen sind, wenn man auf jenes furchtbare Schicksal ihrer Väter zu sprechen kommt, sich in Verständnis und Mitfühlen wandeln. Ist es doch fast aussichtslos, Situationen zu begreifen und zu schildern, für die der Wortschatz eigentlich in keiner Sprache ausreicht.
Wenn ich heute meine Prozeßberichte nachlese, dann sehe ich einige der Zeugen wieder vor mir: Gebildete und Ungebildete, Männer und Frauen – manche, die ihre Erlebnisse all die Jahre über verdrängt hatten und nun bei ihrer Wiedergabe am meisten litten, andere, die tagaus, tagein mit ihren Erinnerungen leben, aber dennoch die Notwendigkeit, sie mitzuteilen, nicht als Erlösung empfanden, einige wenige, denen es mit eiserner Selbstdisziplin gelungen war, das Erlebte als ein abgeschlossenes Kapitel in ihr Leben einzuordnen. Niemand, weder Zeugen noch Mitglieder des Gerichtes, war trotz größter Selbstbeherrschung in der Lage, bei diesen Berichten immer die Fassung zu bewahren. Ganz besonders dann nicht, wenn es galt, ein Kinderschicksal zu schildern oder mitanzuhören. Sich vorstellen zu müssen, was an diesen hilflosesten und unschuldigsten aller menschlichen Wesen begangen worden ist, dem war die mühsam hervorgekehrte Kaltschnäuzigkeit nicht gewachsen, in die wir uns im Frankfurter Gerichtssaal oft flüchteten, um diesen Prozeß physisch und psychisch durchstehen zu können.
Es gab Augenblicke, da man in diesem Saal, in dem meist ungefähr 200 Personen einschließlich der Prozeßbeteiligten anwesend waren, keinen Laut vernahm. Die Menschen saßen wie erstarrt, wie gelähmt, nur die unpersönliche Technik des Mikrophons übertrug die schweren Atemzüge der Richter und das mühsam unterdrückte Aufschluchzen der weiblichen Geschworenen. (Es mag zu der Paradoxie des Lebens gehören, daß wir manchmal gerade in solchen Momenten auf dem benachbarten Schulhof das Jauchzen spielender Kinder vernehmen konnten.) Und niemals werde ich diejenigen vergessen können, die diese Erlebnisse schilderten: die Frau, die meinte, heute auf eigene Kinder verzichten zu müssen, weil ihr das Bild des vor ihren Augen von einem SS-Mann zerschmetterten Knaben nie aus dem Gedächtnis schwindet, oder der alte polnische Major, der sich noch auf der Zeugenbank nicht verzeihen konnte, daß er tatenlos hinter einem Gebüsch versteckt ausgeharrt hatte, als SS-Männer kleine Kinder, die sich vor ihrem Zugriff versteckt hatten, aufspürten und töteten. Von den 20 des Mordes Angeklagten erhielten sechs eine lebenslange Haftstrafe, zehn Zuchthausstrafen zwischen vier bis 12 Jahren, einer erhielt zehn Jahre Jugendstrafe und drei wurden freigesprochen.
Ich erfuhr in diesem Prozeß, daß das Schicksal eines Kindes auch den durch Wohlstand oder eigenes Leid verhärteten Menschen noch rühren kann. So beschloß ich denn, Schicksale von Kindern in der Verfolgung zusammenzutragen, so wie sie in Aussagen von Zeugen vor den Gerichten von Jerusalem oder Frankfurt dargestellt wurden. Ich tat dies nicht, um die deutschen Bibliotheken noch um ein weiteres Buch über
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