Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
Staates lebendig sein. Daraus mag die Abneigung einiger Lehrer und Schüler verständlich werden, sich mit dem Thema Judenverfolgung näher zu befassen. Einladungen an mich von Schulen aus dem Ostteil der Stadt sind daher wesentlich seltener als im Westen. Und wenn sie erfolgen, aus welchen Gründen auch immer, dann ist das Desinteresse der meisten Schüler am Thema unübersehbar.
„Über das Thema Antifaschismus haben wir uns doch auch mit der Judenverfolgung auseinandergesetzt. Das genügt doch!“ Eine oft wiederholte Erklärung von Schülern wie von Lehrern aus der ehemaligen DDR. Auf meine Aufforderung, über meine Erfahrungen in der Nazizeit Fragen zu stellen, denn sicherlich sei ihnen manches unklar geblieben, antwortete eine Schülerin der Erich-Maria-Remarque-Schule in Hellersdorf: „Fragen? Nein. Sie haben doch schon alles gesagt.“ Vielleicht ändert sich das mit den Jahren, je länger eben auch die DDR-Zeit zurückliegt.
Kinder schreiben mir Briefe. Sie richten sie an mich, weil sie die Echtheit meiner Aussagen spüren. Einmal fragte mich eine der Jüngsten unter ihnen, ob es mir nicht schwerfalle, immer wieder über meine Erlebnisse zu sprechen. Ich frage mich manchmal, wieviele Erwachsene sich darüber wohl Gedanken machen.
Einige der Kinder verzieren ihre Briefe mit Zeichnungen ihrem Alter entsprechend – schwarz-weiße und bunte Blumen herrschen vor und sind wohl als Dank dafür zu werten, daß ich zu ihnen kam, ihre Fragen beantwortete und ihre Meinungen mit ihnen diskutierte. Manchmal fügen sie auch ein Porträt von mir an, wie sie mich gesehen haben oder was sie für eine Vorstellung von mir haben, wenn sie mich nicht persönlich kennenlernten. Es zeigt mich meist fröhlich, selten traurig. Ab und zu zeichnen sie auch Symbole aus jener Zeit, denen sie verächtlich machende Bemerkungen beifügen als Beweise für ihr Verstehen. Die Aussagen in ihren Briefen, die ich hier vorstelle, sind für mich Dokumente der Freude. Es sind Briefe, die mich fühlen lassen, daß ich diesen Kindern nahe war, daß sie verstanden, was ich ihnen sagen wollte, und es aufnehmen und umsetzen werden in ihr Verständnis vom Leben. Sie machen es mir möglich, an sie zu glauben, die ja in nicht zu ferner Zeit diejenigen sein werden, die den Geist des Landes bestimmen.
„P. S. Wenn Sie Zeit haben und lustig sind, können Sie mir mal schreiben.“ Sandra L., 7. Klasse
„Wie aber wird es morgen sein?“
Seit etlichen Jahren gehört der Nationalsozialismus, und der Holocaust im besonderen, zum Lehrplan in deutschen Schulen. Dabei werden Fakten nicht beschönigt. Menschen, die ihn durchlebten, stellen sich zur Verfügung, sie ihrem Erleben nach zu illustrieren. Es ist wert, an dieser Stelle anzumerken, daß in den ersten Jahrzehnten nach dem Geschehen nicht nur in der Schule über dieses Thema geschwiegen wurde. Man war damals in der Bundesrepublik insgesamt noch nicht bereit, über die staatlich organisierten Verbrechen, an denen sich viele hunderttausende Deutsche skrupellos beteiligt hatten, wenigstens nachzudenken, ja, sie auch nur als geschehen zur Kenntnis zu nehmen. Um so mehr setzt uns und unseren Kindern heute die Frage zu: Wie konnte das geschehen?
In wenigen Jahren wird keiner mehr von denen, die man „Zeitzeugen“ nennt, am Leben sein. Schon heute ist die noch verbliebene kleine Zahl ihres Alters wegen häufig nicht bereit oder seelisch unfähig, über ihre furchtbaren Leiden während jener Zeit zu reden. Hinzu kommt, daß es zu einer äußerst schwierigen Aufgabe geworden ist, Kindern und Jugendlichen, die in unbegrenzter Freiheit und grenzenloser Demokratie aufwachsen, die Schrecken und facettenreichen Verbrechen einer Diktatur verständlich zu machen.
Wie sollen sie auch die kaltblütigen, grausamen Morde an Juden, Zigeunern – wie man sie damals nannte –, politisch Andersdenkenden und anderen den Nazis nicht „genehmen“ Menschen begreifen, deren „Schuld“ allein darin bestand, Menschen mit anderen Religionen, von anderer Herkunft oder mit anderem Denken als die Mehrzahl des Volkes ihres Landes zu sein? Fragt man die Opfer nach ihrem Begreifen, stehen auch sie heute noch vor einem Rätsel, wie es möglich war, daß tausende von oft bürgerlich wohlerzogenen und gebildeten Deutschen sich dem Morden anschlossen, als ob sie nur ein Unkraut ausrissen. Allein der Kontakt, der häufig zwischen Schülern und Überlebenden in der Schulklasse entsteht, so kurz er auch sein mag, hilft der
Weitere Kostenlose Bücher