Ueberleben als Verpflichtung - den Nazi-Moerdern entkommen
die Gestapo meinen Vater verhaften wollen und befohlen, daß er sich nach seiner Heimkehr unverzüglich auf seinem Revier einzufinden hätte. Es war das erste staatlich organisierte Pogrom am 9. November 1938 als Strafe für den Mord eines jungen jüdischen Polen an einem deutschen Diplomaten. Nichtjüdische Freunde versteckten meinen Vater.
Frau Giese, eine ältere Dame und Besitzerin der Wellensittiche, nahm meine Mutter und mich auf und brachte uns in ihrem Wohnzimmer unter, eben dem Revier der beiden Vögel. Mein Vater besuchte uns zuweilen, um zu überlegen, wie wir uns weiter verhalten sollten. Er war immer noch überzeugt davon, daß er sich der Polizei hätte stellen müssen, als sie ihn verhaften wollte. Meine Mutter lehnte das mit drastischen Worten ab. Wochen später besuchten wir Frau Giese, um uns für ihre Aufnahme zu bedanken. Nicky und Pippa nahmen ihren Platz an der Gardinenstange ein und begrüßten uns im Tonfall meiner Mutter mit den Worten: „Martin, bist du wahnsinnig?“
In jenen Tagen des Pogroms begriffen die deutschen Juden endlich, daß sie in ihrer geliebten Heimat nicht mehr in Frieden und Sicherheit würden leben können. Ein Ansturm auf die Konsulate setzte ein für Einreisevisen, ganz gleich, wohin. Doch die meisten Länder forderten Sicherheiten, Verwandte im Ausland, die für den Einwanderer zu bürgen bereit wären. Oder eine hohe Summe Geldes zugunsten des Einwanderers, die auf einer britischen Bank zu deponieren wäre. Der Grund dafür: Auswanderer aus Deutschland durften nur zehn Reichsmark von ihrem eigenen Guthaben ins Ausland mitnehmen. Der südamerikanische Staat Kolumbien machte eine Ausnahme. Er war bereit, deutsche Juden ohne diese Auflagen aufzunehmen, sofern sie eine Ausbildung oder Erfahrung in der Landwirtschaft vorzuweisen hätten. Erst versuchte es einer: Er stellte sich den Konsulatsbeamten als Gärtner vor, ein Beruf, wie er meinte, der vom Wachsen und Blühen von Pflanzen abhängig sei. Und da hätte er einiges vorzuweisen. Prompt erhielt er ein Einreisevisum. Plötzlich gab es unter den Berliner Juden eine große Zahl von Gärtnern, die in Kolumbien eine Zuflucht fanden. Es war schon Krieg, als man in Bogotà empört feststellen mußte, daß die als Gärtner eingewanderten Juden längst ihr Glück in anderen Berufen gefunden hatten. Eine Ausweisung war nun nicht möglich.
Ein Berliner Jude reiste nach New York, um Bedingungen und Möglichkeiten für eine Einwanderung an Ort und Stelle zu prüfen. Er besuchte einen aus Berlin emigrierten Freund in seinem Exil. Da glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Im Eingang der Wohnung des Freundes hing ein großes Porträt von Adolf Hitler. „Bist du verrückt geworden?“ , empörte er sich. Sehr leise antwortete der Freund: „Es ist doch gegen das Heimweh.“
Krieg lag in der Luft. Hitler hatte ihn schon im September 1938 gewollt. Doch die Westmächte waren auf seine Bedingungen eingegangen. Im Sommer 1939 schien dennoch der Frieden am seidenen Faden zu hängen. Die Berliner Bevölkerung verfolgte den Verlauf der Verhandlungen, von denen sie nur wenig erfuhr, ungewöhnlich schweigsam. Einerseits sich wohl bewußt, daß sie an den Entscheidungen nichts würden ändern können, andererseits verängstigt, was Krieg für sie bedeuten könnte.
Die Juden waren verzweifelt. Krieg würde all ihren Bestrebungen, auszuwandern, ein Ende setzen und sie zwingen, in diesem Land zu bleiben, das sie mit Haß und Drohungen überschüttete. Ein Jude bat in einem Reisebüro, einen Globus zu sehen. Verwundert stellte man einen vor ihn hin. Nun saß er da und drehte den Globus und guckte und drehte ihn erneut und starrte auf die fremden Staaten.
Schließlich fragte er deprimiert: „Ham Sie nicht nen anderen Globus?“
Shanghai und Aleppo sollten noch für Einwanderer offen sein, hieß es. Zwei Orte, deren Ruf nicht der beste war. Mein Vater suchte Aleppo, von dem er nie zuvor etwas gehört hatte, im Lexikon. Da stand zu lesen: „bekannt für die Aleppo-Beule, eine ansteckende orientalische Hautkrankheit“ . Als Fluchtort fiel Aleppo für die Familie Deutschkron aus.
Als der Krieg im September 1939 schließlich begann, kam er eigentlich unerwartet. Der Hitler-Stalin-Pakt von 23. August 1939 schien die Möglichkeit eines Krieges zunächst auszuschließen. Würden die Westmächte gegen zwei so hochgerüstete verbündete Mächte antreten? Doch sie taten es. In Berlin war der Krieg vorbereitet. Lebensmittelkarten wurden verteilt,
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