Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Kollegin Nina vom Marketing zu beobachten, wie sie zwei Tische weiter ganz sachte ihre Sitzposition korrigiert und ihr Knackarsch in der straff sitzenden Maßanzughose anregend auf dem Stuhl herumrutscht. Die festen Brüste im gut geschnittenen Kostüm sehen von schräg hinten besonders pulsbeschleunigend aus, dreißig Zentimeter schweben sie über der Tischplatte, züchtig verdeckt von Bluse und Weste. Ninas Kunde steht auf und verabschiedet sich. Sie geht in Richtung Teeküche des Messestands (Zutritt nur für Firmenangehörige) und wirft Jens ein Lächeln zu.
»… und da hatten wir nicht mal ein richtiges Hotel, sondern eine Pension bei einer alten, schlesischen Großmutter. Können Sie sich das vorstellen?«
Die Stimme seines Kunden taucht wieder in Jens’ Bewusstsein auf. Nina winkt ihm neckisch zu, bevor sie in der Teeküche verschwindet. Den ganzen Tag schon senden sich die beiden Signale. So wie alle anderen sich gegenseitig Signale senden. Wären Balzrituale elektromagnetisch, würde in Messehallen sämtlicher Funkverkehr zusammenbrechen.
»Das war aber auch irgendwo mal was anderes als immer nur Marriott, Radisson oder Lindner. Bei Lindner gibt es doch diese durchsichtigen Duschkabinen mitten im Raum. Da fühle ich mich beobachtet, obwohl ich allein bin.«
Jens’ Kunde lacht. Er ist über sechzig und weiß nicht, was man mit den Kabinen anfängt. Der Gute hat’s hinter sich.
Jens ist ebenfalls im Lindner untergebracht und denkt den ganzen Tag schon an diese Box aus Glas. Ums Duschen geht’s in den Dingern nicht, sondern um Wasser auf der Haut zweier Körper unter dem riesigen Regenwaldduschkopf.
Oder darum, dass die Tropfen an Ninas Kurven hinabgleiten, während er auf dem Bett liegt und wartet, bis sie ihm erlaubt, zu ihr zu kommen. Lindner baut Hotels so, wie Messeprofis sie brauchen. Mit Duschen, die eigentlich Sexkabinen sind.
Merke ➙ Sobald ein Profi, der die vollen Tage rund um einen Firmenstand verbringt, die Messehallen betritt, denkt er an Sex. Da er außerdem nur Kaffee trinkt und nichts isst, hebelt die Unterzuckerung seine Willenskraft Stunde um Stunde mehr aus.
»… bei dem Abschluss vor zwei Jahren … ich sagte ihm … übervorteilt … Sie waren doch dabei, oder?«
Schon wieder eine Stimme über den Keksen.
Jens blickt auf.
Oh, der Kunde an seinem Tisch hat gewechselt. Wann ist das geschehen?
Jens glaubt, den, der ihm jetzt gegenübersitzt, von irgendwoher zu kennen. Wie lange er wohl schon redet? Und ob Jens bereits einen Abschluss mit ihm gemacht hat? Er schaut auf seine Uhr. Halb drei am Nachmittag. Gegessen hat er heute noch nichts. Nur Beilagenkekse zwischen den Fingern zerkrümelt und die Zuckernährstoffe durch die Hautporen eindringen lassen. Das reicht nicht. Der Kunde ihm gegenüber sieht müde aus. Er weiß, wozu die Duschkabinen da sind.
Wie alle hier, die noch fern der Rente stehen. Das Neonlicht rieselt aus hundert Meter hohen Decken auf verbrauchte Gesichter hinab. Sie sind nicht ungepflegt, im Gegenteil. Man erkennt nur untereinander, wer zur Messegesellschaft gehört und wer nicht. Man sieht die durchwachten Stunden. Auch heute Abend gibt es wieder eine Party. Nina stolziert am Stand herum und jongliert gleichzeitig drei Anzugträger. Sie hängen an ihren Lippen.
Der Fremde an Jens’ Verhandlungstisch redet immer noch.
»… und ich sag immer: Wer billig kauft, kauft zweimal …«
Jens fragt sich, ob Nina unter der Anzughose ein Höschen trägt. Gestern Nacht, auf dem Empfang, sagte sie nein. Er hatte nicht mal danach gefragt. Seine Ohren rauschen. Jens hat eine Frau. Und Kinder. Nina hat eine Tochter, aber keinen Mann. Kommendes Wochenende wird Jens’ kleiner Sohn wieder das Wurfspiel mit den Ringen aus der Garage klauben, als sei nichts geschehen. Ist es ja auch nicht. Die Messe ist nicht real. Die Messe ist ein Holodeck.
Merke ➙ In Amerika gilt: Was in Las Vegas geschieht, bleibt in Las Vegas. Da es in Deutschland kein Las Vegas gibt, wurde hier eine andere Parallelwelt geschaffen. Zwischen Frankfurt, Düsseldorf und Leipzig gilt: Was auf der Messe geschieht, bleibt auf der Messe.
Die zwei Stunden zwischen Messeschluss und Partyabend verbringt Jens allein.
Als er durch das Foyer des Hotels schlurft, kommt er: der Zwischenknick.
Jeder Messeprofi kennt ihn. So müssen sich Marathonläufer fühlen, wenn sie den fünfunddreißigsten Kilometer passiert haben und die letzten siebeneinhalb am liebsten streichen würden. Der Unterschied ist, denkt
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