Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Night Fever« getanzt. Jetzt ist es ein Heimkino.
»Wie läuft’s denn mit den Nachbarn?«, will Alexandras Freund Marcel wissen und tunkt ein Stückchen Putenfleisch ins Frittierfett. Es brutzelt. Jana kippt sich Cocktailsoße auf den Steingut-Teller. Jonas setzt zu einer Antwort an, aber Ulrike nimmt ihm die Arbeit ab: »Ich will mal so sagen: Den Palästinensern geht’s geringfügig besser als uns.«
Marcel lacht. Er trägt ein altes 50-Pfennig-Stück an einer Kette aus kleinen, runden Stahlkügelchen um den Hals, wie amerikanische Soldaten sie für ihre Erkennungsmarken benutzen. Alexandra und er leben in einer Dachgeschosswohnung der Innenstadt, im Kneipenviertel.
Janas Freund Dennis tunkt ein Stückchen Knusperbaguette in die Cocktailsoße, die seine Freundin sich gerade auf den Teller gekippt hat und sagt: »Tja, Jonas. Ich hab dir damals gesagt: Nimm lieber den maroden Altbau auf dem Land als Papas alte Kajüte im Arbeiterviertel.«
Jonas lächelt etwas gequält und beißt in eine Gewürzgurke. Er hat die Spitze verstanden.
Merke ➙ Früher waren Arbeiterviertel die Gegenden, in denen Arbeiter lebten, die Arbeit hatten, weil es Arbeit für sie gab. Heute sind Arbeiterviertel die Gegenden, in denen Arbeiter leben, die Arbeit suchen, weil es keine mehr für sie gibt.
Im Wohnzimmer stolpert der Butler von Miss Sophie zum vierten Mal an diesem Abend über den Tigerkopf. Ulrike schaltet jedes Mal, wenn ein öffentlich-rechtlicher Sender Dinner for One ausgestrahlt hat, zum nächsten, bei dem es 15 Minuten später anläuft. Dann kommt sie wieder an den Tisch und deutet mit den anderen Frauen die Bleiklumpen, die sich im kalten Wasser gebildet haben.
»Ich sehe … einen Drachen«, beginnt Jana ihre Aufzählung, »einen Hasen, eine Tänzerin, eine alte Burg und …«, sie kichert, »einen erigierten Penis.«
Alexandra hebt ihr Glas mit Korea, einem Gemisch aus Rotwein und Cola: »Darauf, dass unsere Männer uns 2013 so gut rannehmen wie japanische Karatekämpfer in den Hoteletagen von Tokio!«
Jonas runzelt die Stirn. Er ist Protokollführer und notiert die in den Bleiklumpen identifizierten Drachen, Hasen und Penisse. Neben ihm auf der Sessellehne liegt ein Buch über Motivdeutung.
Im Keller rummst und knallt es schon jetzt, da die Männer auf der großen Beamer-Leinwand auf der über die Heimkinoanlage angeschlossenen Konsole Battlefield 3 spielen. Schritte huschen die Treppe hinauf, Dennis geht kurz aufs Klo und steht danach in der Wohnzimmertür. Er schwitzt, als kämpfe er tatsächlich gerade uniformiert gegen Russen und Iraner. Er wirft einen Blick auf Miss Sophie im Fernseher, das Bleigießen auf dem Tisch und Jonas mit seinem Notizblock.
»Jetzt komm doch mal runter, das ist geil heute. Da sind neun weitere Mitspieler im Netzwerk. An Silvester! Und die gehen voll ab!«
Jonas schaut zu Ulrike, als ob sie es erlauben müsse.
Sie nippt an ihrem Korea und sagt: »Du musst tun, was du nicht lassen kannst.«
Jana legt den Kopf schief und sieht sie erneut mahnend an. Ulrike hält nichts von Kriegsspielen.
»Was ist jetzt?«, drängt Dennis. »Ich muss wieder in den Einsatz.«
Jana zieht die Brauen hoch und stupst Ulrike an den Fuß. Sie flüstert: »Wie lautet die Regel?«
Ulrike weiß, wie die Regel lautet: An Silvester macht jeder, was er will. Keine Ermahnungen. Jonas hat heute Morgen nicht die Fliesen abgezogen, aber Ulrike hat sich auf die Zunge gebissen.
»Geh«, sagt Ulrike und macht eine Handbewegung Richtung Tür. »Folge deinem Wesen als Mann.«
Jonas lacht ironisch, als habe er mit seinem Wesen als Mann selbstverständlich gar nichts zu tun. Er springt auf und folgt Dennis nach unten.
Jana klopft Ulrike auf den Unterarm: »Braves Mädchen.«
Ulrike sagt: »Du wirst sehen. Das werden wir heute noch bereuen. Wenn Männer dürfen, wie sie wollen, steht der Untergang bevor.«
Alexandra sagt: »Ach, Ulrike. Sei nicht immer so fatalistisch.«
»Der Untergang«, bekräftigt Ulrike, den Blick auf dem Bleiklumpen, der zugleich Hase und erigierter Penis ist. »Der Untergang …«
Merke ➙ Männer flüchten vor jedem Streit, aber sie brauchen den Krieg. Deswegen lieben sie Tage, an denen der Himmel brennt.
»Du hast einen Kämpfer mitgebracht!«, freut sich Marcel. Er steht direkt vor der Leinwand, in einem Panorama riesiger Rauchsäulen am Horizont der staubigen Wüste. Das 50-Pfennig-Stück um seinen Hals wirkt vor dieser Kulisse erst recht wie die Hundemarke eines Soldaten. Er zieht
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