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Ufer von Morgen

Ufer von Morgen

Titel: Ufer von Morgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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lassen«, sagte er zu Sorine. »Ein, zwei Tage werde ich nichts schreiben.«
    Das Nachdenken dauerte jedoch drei Tage, eine Woche, zwei Wochen. Er kam vom Lagerhaus erschöpft nach Hause, nippte an seinem Cocktail, las oder sah fern. Er sagte kaum etwas und schrieb nichts nieder. Sorine bewahrte taktvolles Schweigen. Wilson nannte seinen Zustand »eine vorübergehende Blockierung der Arbeitsfähigkeit«. Schließlich sagte er zu dem Thema gar nichts mehr.
    Er wußte, wo die Schwierigkeit lag. Sie hatte zwei Seiten. Einmal hatte er seine Studienbeihilfe, die Grundlage seiner finanziellen Sicherheit und seines Selbstvertrauen verloren, und was noch schlimmer war, er hatte den Faden seiner Gedankenführung verloren. Die soziokulturellen Haltungen der Arbeiterklasse paßten nicht in seine vorgefaßten Denkstrukturen. Er hatte bittere, unzufriedene Männer erwartet. Er hatte glückliche Männer gefunden, die mit ihrem Platz in der Gesellschaft einverstanden waren. Sie zeigten kaum eine Unsicherheit. Die Streßstrukturen, die er seinem Plan zugrunde gelegt hatte, waren einfach nicht vorhanden.
    Mit seinen Kopfschmerzen wurde es schlimmer. Er schrieb wieder einen Artikel für die Republic und bekam ihn mit einer zweiten vorgedruckten Absage zurück. Er starrte schuldbewußt auf den Stapel Manuskriptseiten, der schon seit langem nicht weiter wuchs. Er fing an, statt eines Cocktails vor dem Abendessen zwei zu trinken. Er nörgelte endlos an Sorine herum, und das gefiel ihm eigentlich überhaupt nicht.
    Es gibt schon Streßstrukturen, dachte er sich. Aber nicht im Leben der Lagerarbeiter. Sie finden sich in meinem Leben. Sie legen sich mir um den Hals und werden immer enger.
    Ein paar Wochen später kam es auf einer Party, die Paul Chambers, der Kollege, der Wilson am nächsten stand, in seiner Wohnung gab, zur Explosion. Es war jetzt schon später November. Die Tage waren kurz, und die Temperaturen lagen um zehn Grad. Es hatte schon einmal kurz geschneit.
    Wilson hatte vorgehabt, in seiner Arbeitskluft zur Party zu gehen, doch Sonne wollte nichts davon wissen.
    »Das war ein guter Witz«, sagte er eigensinnig. »Es war sowieso Pauls Einfall mit der blöden Arbeit.«
    »Das hat damit nichts zu tun«, erwiderte sie fest. Sie verlor jetzt leichter die Geduld mit ihm. »Es werden wichtige Leute dort sein, Leute vom Lehrkörper. Du kannst nicht wie ein Landstreicher daherkommen.«
    »Ich werde doch nicht wie ein Landstreicher aussehen. Die Arbeiter sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. Sie ziehen sich nur so an, wie es ihre Arbeit erforderlich macht –«
    »Howard!« sagte sie mit drohender Stimme.
    Er begriff. »Na schön«, murmelte er entmutigt. »Ich ziehe meine besten Klamotten an.«
    Bevor sie losgingen, goß er sich einen großen Schluck Bourbon ein. »Für den Weg«, erklärte er Sorine. »Draußen ist es kalt.« Er sagte ihr natürlich nicht, daß er trank, weil ihm der Alkohol die grüblerischen Gedanken verscheuchte.
    Sie liefen zu Chambers Wohnung. Sie lag zwölf Ecken weiter, und früher hätten sie sich ein Taxi geleistet. Als sie ankamen, war die Party in vollem Gange. Chambers kam selbst zur Tür, ein schlanker Mann mit kurzem, ergrauendem Haar und dem fröhlichen Gesicht eines Studenten. Er war jedoch fünfundvierzig und schon Professor. Er grinste breit, als er die Wilsons erblickte.
    »Howard! Schön, daß du kommst! Hereinspaziert! Hallo, Sorine, schön wie immer!«
    Er umarmte Sorine väterlich und zog sie fast in das große, geschmackvoll eingerichtete Apartment. Wilson ging ihnen nach. Ein kurzer Blick zeigte ihm zwanzig oder dreißig Leute, jeweils mit einem Glas in der einen, einer Zigarette in der anderen Hand, mit glatten, wohlerzogenen Gesichtern. Es war das erste größere gesellschaftliche Ereignis, das er besuchte, seit er im Lagerhaus zu arbeiten angefangen hatte, und einen Augenblick sah er die Gäste objektiv und neugierig an, als habe er noch nie eine Gruppe von College-Leuten gesehen.
    »Die Mäntel dort hinein, Getränke sind im Musikzimmer«, sagte Chambers und eilte weiter.
    Sie legten die Mäntel ab und folgten Chambers zur Bar. Wilson schenkte sich aus einem Krug einen kalten Martini ein. Sorine entschied sich für Wermut. Er nippte an seinem Glas und sah sich um. Er erkannte ein halbes Dutzend Leute aus der Soziologieabteilung, darunter Professor Griggs, den Lehrstuhlinhaber. Ein paar andere bekannte Gesichter von der Universität waren da und auch ein paar unbekannte. Paul bringt

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