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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Mann
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es kribbelt ganz leicht, wenn die Federn durchstoßen.«
    Er verharrte still und schien auf etwas zu lauschen. »Ich werde fliegen. Fliegen, fliegen …«
    Ehe wir uns versahen, rannte er los, durch den Hinterhof, Richtung Straße. Auf dem Gehsteig blieb er kurz stehen und sah sich hastig um, als würde er sich nicht auskennen, dann blickte er nach rechts, dabei wirkte er ganz ruhig und sein Gesicht erstrahlte. Wie ein glückliches Kind sah er aus, als er auf den Viadukt zurannte, über den die Eisenbahnlinie zum Flughafen führte.
    Wir setzten ihm nach und versuchten, ihn zum Anhalten zu bewegen, doch er ignorierte unsere Rufe, und als wir um die Ecke bogen, war er verschwunden. Vor uns ragten die Pfeiler der Brücke auf, die aus groben, aufeinandergeschichteten Steinblöcken bestanden, die Geschäfte in den Bögen darunter waren dunkel, ihre Schaufenster spiegelten nur das kalte Licht der Straßenlampen.
    »Scheiße, Scheiße! Wir haben ihn verloren!«, keuchte Kathi hinter mir. Trotz ihrer Körperfülle und des kaum für sportliche Betätigungen vorgesehenen Outfits hatte sie das Tempo mithalten können, die Sorge um Nils trieb sie zu Höchstleistungen an.
    »Vielleicht ist er auf der anderen Seite des Viadukts.«
    Der Durchgang erinnerte an einen hohen Torbogen, dahinter lagen Parkplätze und der asphaltierte Vorhof einer Wohnsiedlung. Folgte man dem Viadukt Richtung Norden, gelangte man zur Josefwiese, die im Sommer mit einem Café und mediterranem Flair lockte.
    »Hier ist er nicht.« Keuchend blieb ich auf der anderen Seite des Durchgangs stehen, stützte die geballten Fäuste in die Seiten und sah mich um.
    Das Geräusch eilender Schritte ließ mich nach oben blicken. Etwas tiefer versetzt als die Bahngleise verlief ein zweiter Viadukt parallel zum ersten, ein neu angelegter Spazierweg in luftiger Höhe, der über Treppen von der Straße her zu erreichen war.
    Jetzt folgte mein Blick dem Schatten, der über den Steg flog, und als ich ein paar Schritte zurücktrat, erkannte ich Nils an seinem gelben Hemd, das selbst in der Dunkelheit leuchtete. Geschätzte sieben Meter über mir rannte er auf dem Lettenweg, wie die Promenade benannt worden war, Richtung Limmat.
    »Nils!«, schrie ich. Gleich darauf hatte Kathi mich eingeholt und gemeinsam brüllten wir ihm hinterher.
    Doch Nils schien uns nicht zu hören, wie getrieben hastete er weiter, stolperte und fing sich gleich wieder. Als er über der Josefwiese war, blieb er abrupt stehen und sah sich um. Er hielt den Kopf schief gelegt, als lausche er auf Geräusche, die wir nicht vernehmen konnten. Zögernd trat er dann ans helle Aluminiumgeländer. Seine Brust hob und senkte sich heftig, sein Gesicht wirkte im kalten Mondlicht euphorisch.
    »Nils! Um Gottes Willen!« Kathis Stimme versagte fast.
    »Komm da runter!« Sie fuchtelte mit einer winzigen Taschenlampe herum, die sie soeben aus ihrer Handtasche gekramt hatte.
    Nils schien sie nicht zu hören. Sein Mund stand leicht offen, er schnappte nach Luft, der Atem zeichnete sich in hellen Schwaden vor dem nächtlichen Himmel ab.
    »Nils! Nein!«, schrie Kathi und eilte über den schmalen Kiesweg, welcher zwischen dem Viadukt und der Wiese verlief.
    Sie hatte beinahe seine Position erreicht, als eine plötzliche Entschlossenheit in seinem Gesicht zu erkennen war. Er hielt sich mit beiden Händen an der Brüstung fest, kletterte behände auf das Geländer und richtete sich dann vorsichtig auf. Unsicher balancierte er auf der Stange, bis er Halt gefunden hatte. Sein Körper schwankte nur leicht, als er die Arme ausbreitete und in dieser Stellung stehen blieb, ohne sich zu rühren. Er sah aus wie ein Gekreuzigter ohne Kreuz. Dann stieß er sich mit einer federleichten Bewegung ab.
    Sekundenlang herrschte Stille, bevor Kathis Aufschrei durch die kalte Winternacht gellte.
    Nils lag auf dem Bauch im Schnee, sein Kopf war in einem seltsamen Winkel abgedreht.
    Ich blickte Kathi an und erhob mich, nachdem ich auf der Suche nach einem Pulsschlag vergeblich seinen Hals abgetastet hatte. Kathi, die vor Kälte schlotternd neben mir stand, barg ihr Gesicht in den Händen. Ich trat von der Leiche zurück und nestelte mein Handy aus der Hosentasche.
    »Polizei?«, flüsterte Kathi und ich nickte.
    Schluchzend sah sie sich um und lief dann zielstrebig zu den Müllcontainern, die aufgereiht vor den Wohnhäusern am Rande der Josefwiese standen. Irritiert sah ich ihr hinterher und begriff erst, was sie vorhatte, nachdem sie die

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