Uhrwerk Venedig (German Edition)
Vatikans in zahlreichen Städten Europas tätig gewesen. Natürlich nicht offiziell. Offiziell war er ein etwas sonderlicher, englischer Adelsspross, der im Auftrag der Vatikanischen Bibliothek mit seiner »Heiligen Gesellschaft für Historische Nachforschungen« an einer vollständigen Enzyklopädie der europäischen Heiligen und Reliquien arbeitete. Inoffiziell allerdings unterstand die Gesellschaft dem Heiligen Stuhl selbst und hatte nur einen Zweck: das Aufspüren und Sicherstellen potentiell gefährlicher, mechanischer Teufelswerke.
Derzeit saß Hawthorne auf seinem nur wenig bequemeren persönlichen Stuhl und betrachtete den Sonnenaufgang über dem Campo Sant‘ Angelo. Er wartete.
Colosso, der Hausdiener, hatte ihn außerplanmäßig früh geweckt, da zwei seiner Leute auf eine dringende Unterredung bestanden hatten.
Es klopfte. Zwei Fingerknöchel, dachte er. Das ist Colosso.
»Bitte.«
Die Tür wurde geöffnet und Hawthorne nahm den Geruch von Seife, schalem birra forte und Dottore Corradinis Kopffrei-Elixier wahr. Er musste nicht in die Gesichter der beiden Eintretenden blicken, um zu wissen, dass es ihnen alles andere als gut ging. Aber sie waren mit Sicherheit nüchtern. Ein Becher von dem Gebräu des Dottore schaffte es, in fünf Minuten aus einem ganzen Fass schottischem Aqua vitae ein alkoholfreies Getränk zu machen. Wobei das Fass trotzdem unter einem ziemlichen Kater zu leiden hätte.
»Sergente Francisco und Brigadore Mordechai«, rumpelte Colosso und trat zur Seite.
»Guten Morgen, Messers.« Ein Lächeln präzis abgemessener Belustigung umspielte Hawthornes Lippen.
»’Giorno, Capo«, murmelte Sergente Francisco.
»Ich nehme an, ihr seid erst seit einigen Minuten im Haus?« Er notierte in Gedanken die frische Kleidung und das ebenso frisch gewaschene Aussehen seiner beiden Mitarbeiter. »Und ihr wolltet mich sprechen?«
»Si«, antwortete Brigadiere Mordechai. »Wir kommen gerade von Vigile Cresciczos Namenstag.«
»Dem Namenstag des verstorbenen Vigile Cresciczo«, korrigierte Don trocken.
Hawthorne zog eine Augenbraue hoch und verbannte das plötzlich unpassende Lächeln aus seiner Miene.
»Verstorben wordenden Vigile Cresciczo«, konkretisierte Mordechai hilfreich.
»Todesursache?«
»Herzstillstand.« Don Francisco strich sich fahrig durch die struppigen Haare und legte ein in Öltuch eingeschlagenes Päckchen auf dem Schreibtisch des Capitanos ab. »Hervorgerufen durch das hier. Es flog plötzlich durch den Raum und drang in seinen Nacken ein, als er gerade dabei war, das fünfte Spiel Tarocchi in Folge zu gewinnen. Womit wir natürliche Todesursachen wohl ausschließen können - wir schulden ihm noch eine ordentliche Handvoll Dukaten«, setzte er hinzu.
»Scheint sein Glückstag gewesen zu sein.«
Mordechai und Don Francisco sahen sich kurz an.
»Äh ... eigentlich nicht ...«, murmelte Don. »Weil er doch ...«
Hawthorne winkte ab. »Habt ihr die Garde verständigt?« Er schlug das vor ihm liegende Öltuch auseinander.
»Die Vigili? Nein, Capo. Ich ... wir dachten, du würdest das hier sehen wollen, bevor es die Vigili in die Finger bekommen.«
Hawthorne starrte auf den Gegenstand, den das Tuch verhüllt hatte. Es war ein schlanker, aus Messing gefertigter Bolzen, wie er für Handarmbrüste verwendet wurde. Dieses spezielle Exemplar war allerdings eine Sonderanfertigung. Keiner der bekannten Hersteller von Bolzen hatte derart komplizierte Konstruktionen im Angebot. Sicherlich, es gab Geschosse mit Klappmechanismen für Widerhaken, es gab Geschosse mit Hohlspitzen, die im Flug ein erschreckendes Pfeifen verursachten. Es gab Spitzen, die Kammern für Säuren, Gifte oder Brennbares enthielten oder die beim Auftreffen zersplitterten und in schrapnellartige Bruchstücke zerfielen. Dieser Bolzen jedoch war etwas anderes. Wer immer ihn hergestellt hatte, würde vor einem ordentlichen Gericht eine Menge zu erklären haben.
Hawthorne begutachtete das Geschoss lange durch ein Vergrößerungsglas. Er kam nicht umhin, dem Schöpfer dieses Kunstwerkes Bewunderung zu zollen. Eine morbide Bewunderung zwar, wenn er bedachte, dass es sich bei dem braunen, gelierten Überzug um das Blut eines Ermordeten handelte, aber trotzdem: Dies war eines der elegantesten Stücke Mechanik, das er je gesehen hatte. Dutzende kleiner Zahnräder waren um den Schaft verteilt und verbanden Schrauben, Schnecken und winzige Spindeln miteinander. Vieles war jetzt freilich verbogen und aus den Lagern
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