Ulysses Moore – Die Häfen des Schreckens
zeigten anderen den Weg, sahen nach, ob ihre Nachbarn schon in Sicherheit waren oder Hilfe brauchten, und unterstützten sich gegenseitig. Anscheinend hatten sie diese Situation vor vielen Jahren geprobt. Julia hörte, wie eine Frau zu ihrem Begleiter sagte: »Kannst du dich noch an die Übung erinnern?«
»Aber klar! Es gab ja sogar Wettbewerbe, wer am schnellsten im Schutzraum ist.«
»Ach, wie viele Jahre mag das her sein? Zwanzig?«
»Sehr viel mehr, meine Liebe! Damals wohnten in dem Haus über den Klippen noch die Moores.«
Mit der Zeit erfuhr Julia, dass die Bewohner von Kilmore Cove Ende der Siebzigerjahre über das Vorhandensein der Schutzräume informiert wurden und dass es sogar Übungen für den Ernstfall gegeben hatte. Damals war ihnen gesagt worden, es handle sich um Atomschutzbunker, die sie aufsuchen sollten, falls es zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs käme.
»Julia! Julia Covenant!«, rief plötzlich eine Stimme aus der Menge.
Das Mädchen riss sich aus seinen Grübeleien und erkannte Ricks Mutter. »Mistress Banner!«
Die Frau scherte aus der Schlange aus und umarmte Julia stürmisch. Sie versicherten sich gegenseitig, dass es ihnen beiden gut gehe, und dann stellte Mrs Banner eine vorhersehbare Frage: »Ist Rick auch hier? Ist er mit dir hergekommen?«
Julia zuckte innerlich zusammen. Es war nicht der richtige Moment, um Mrs Banner die Wahrheit zu sagen, dachte sie. Denn Rick war auf der Suche nach Ulysses Moore und befand sich im Augenblick an einem Ort, der Hunderte von Kilometern und dreihundert Jahre von ihnen entfernt war. Julia beschloss, dass es besser wäre, seine Mutter erst einmal mit einer Lüge zu beruhigen, und erwiderte: »Vorhin habe ich ihn noch gesehen. Er ist bei Pater Phoenix.«
Mrs Banner glaubte es ihr und Julia bekam dadurch sofort ein noch viel schlechteres Gewissen.
»Kommst du mit uns runter?«
»Erst später. Ich warte noch auf meinen Bruder.«
»Du wirst sehen, es wird alles wieder gut«, meinte Ricks Mutter und drückte sie noch einmal an sich, bevor sie wieder in die Schlange zurückkehrte. »Es ist bis jetzt immer gut ausgegangen.«
Julia zwang sich zu lächeln. Dann verließ sie die Schule. Sie blieb im Regen stehen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ihr war ängstlich und beklommen zumute.
Sie hasste es, lügen zu müssen.
Sie hasste es, irgendwelche Geschichten erfinden zu müssen, um andere zu beruhigen, wenn sie gleichzeitig wusste, dass es keinerlei Anlass dafür gab.
Rick.
Wie sehr hätte sie sich gewünscht, dass er hier bei ihr wäre und ihr helfen könnte, all diese Leute in Sicherheit zu bringen! Wie mochte es ihm gehen? Ob es ihm wohl gelungen war, Nestor zu finden? Und wenn er ebenfalls gefangen genommen worden war, genauso wie ihre Eltern?
Tränen schossen ihr in die Augen, und der Drang, sich gehen zu lassen und einfach loszuheulen, hätte beinahe die Oberhand gewonnen. Aber das durfte nicht passieren. Nicht jetzt. Sie hatte eine wichtige Aufgabe und Black und Pater Phoenix verließen sich auf sie.
Julia unterdrückte die Tränen und atmete einmal kräftig durch. Konzentriert überlegte sie, was als Nächstes zu tun sei. Mrs Bowen und Kalypsos Mutter waren beide bettlägerig. Sie schickte einen der Messdiener zu ihnen. Er sollte sich vergewissern, dass die beiden alten Damen in Sicherheit gebracht worden waren.
Als der Junge losgelaufen war, kümmerte sich Julia um die Menschen, die in einer Schlange vor der Schule standen. Sie beruhigte die ängstlichen und wies alle ein, die die Schutzräume nicht kannten.
Auf einmal fiel ihr Jason ein. Wo in aller Welt steckte er bloß? Er hatte gesagt, er würde sofort zurückkommen, war aber nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er ja in dem Schutzraum unter der Kirche Zuflucht gesucht. Aber wenn ihm etwas passiert war?
Nervös begann sie, an den Fingernägeln herumzukauen. Noch etwas, das sie hasste.
Gegen den Strom der Schutzsuchenden ging sie in Richtung Hauptstraße. »Haben Sie meinen Bruder gesehen?«, fragte sie alle, die ihr entgegenkamen. »Einen Jungen in meinem Alter, mit braunem Haar? Wir haben uns am St. Jacob’s Square aus den Augen verloren.« Doch alle verneinten. Sie hatten Jason nicht gesehen.
Nur die Besitzerin des Blumengeschäfts meinte: »Als ich dort vorbeikam, habe ich Schüsse gehört, Miss. Es tut mir furchtbar leid, aber ich bin mir ganz sicher. Es waren Schüsse.«
Schüsse?
Julia rannte los.
»Die Luft ist rein«, meldete Jason, nachdem er vorsichtig aus
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